Udos Welt

Folge 50: Warum?

Letzter Abend der Thüringer Trainingswoche. Großes Abschiedsgelage. Sternklarer Himmel, selbst die Fledermäuse frieren. Plötzlich steht Julia neben mir am Fenster.

"Udo?"

"Ja?"

"Ich muss dich mal was fragen."

Schmussdich mawass frachen? Das nennt man wohl schwere Zunge. Ich proste ihr zu. "Nur raus damit!"

 

"Okay, also: Wozu machen wir das eigentlich alles?"

Irritiert setze ich die Bierflasche ab. "Was alles?"

 

"Na, das hier." Große Geste mit der rechten Hand. "Laufen."

"Laufen?"

"Ja, laufen."

Ich überlege. Warum und wozu ich laufe, weiß ich. Die Ursache steht neben mir. Das heißt, im Moment schwankt sie eher.

Aber warum läuft Julia?

"Da trainiert man bei Wind und Wetter", fährt sie fort. "Bei 35 Grad im Schatten, auf Eis und Schnee oder frühmorgens im Dunkeln. Und wofür?" Hoppla, ein Bäuerchen! Und Schluckauf gleich hinterher. "Wofür, Udo? Für eine Urkunde, auf der die Tinte verläuft. Für ein Duschgel, falls man die Altersklasse gewinnt."

"Duschgel ist nützlich", sage ich.

 

"Im Supermarkt bekomme ich 99-Cent-Duschgel, ohne dass ich kotzen muss."

"Auch wahr."

"Oder das mit der Verdauung. Vor jedem Wettkampf renne ich zehnmal aufs Klo, mindestens." Sie packt mich am Arm. "Udo, ich kenne jede Sportplatztoilette zwischen Schümmerich und Krottwinkel. Da kommt man doch ins Grübeln!"

"Tja."

 

Seufzend stellt sie ihre Flasche ab und stützt sich mit beiden Händen auf die Fensterbank. Ihr Atem kondensiert an der Scheibe. "Wozu?", murmelt sie düster. "Es muss doch einen Grund geben!"

Höchste Zeit für eine philosophische Aussage! "Nun", sage ich mit gespitzten Lippen, "vielleicht laufen wir, weil wir sonst nicht laufen würden."

Sie legt den Kopf schief. "Hä?"

"Wir müssen einfach laufen, meine ich damit. Menschlicher Urtrieb, um der Mitwelt unsere Fortpflanzungsfähigkeit zu beweisen. Sport als Fruchtbarkeitsritual."

 

 

"Kapier ich nicht."

"Könnte doch sein, dass der Mensch läuft, um potenziellen Partnern zu imponieren. Balzen in Turnschuhen."

Julia nickt langsam. "Ah", sagt sie. "Ah, ja. Aber weißt du, so toll find ich den Typen auch wieder nicht."

 

"Welchen Typen?"

"Na, den Dings, den Andreas. Schon irgendwie süß, aber ein bisschen zu anhänglich." Wegwerfende Handbewegung, die sie aus dem Gleichgewicht bringt. "Für meinen Geschmack jedenfalls."

"Außerdem ist er dauerverletzt, der Knabe", sage ich finster. "Zu weich fürs professionelle Gebalze."

"Ach, Udo", seufzt sie und legt ihren Kopf an meine Schulter. Wäre ich ein Alkoholmessgerät, müsste ich jetzt Alarm schlagen. "Ihr Männer seid schon komisch."

Ich brumme etwas Unverständliches.

"Wir Frauen aber auch." Ruckartig hebt sie den Kopf. "Stell dir vor, gestern war ich einkaufen. Sportzeugs. Und da kann ich mich einfach nicht entscheiden, ob ich mir das blaue oder das rote Theraband zulege. Rot oder blau. Ich meine, ist das nicht absurd?"

 

Ich nicke väterlich. "Während arme Läufer in Afrika sich niemals ein Theraband kaufen können. Das meinst du, richtig?"

Vor lauter Wonne, Verständnis zu finden, seufzt sie auf.

"Trotzdem sind die Afrikaner schneller als wir", sage ich. "Vielleicht, weil sie sich übers Laufen nicht so viele Gedanken machen."

Julia grunzt zustimmend.

"Aber wenn du dir deswegen einen Kenianer anlachst", drohe ich ihr, "dann …"

Promilleselig schielt sie mich an. "Dann?"

"Dann überdenke ich meine Theorie. Alter Philosophentrick."

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