Udos Welt

Folge 48: Fürs Leben lernen

Meine Waage habe ich zur Reparatur gebracht. Zum Enkel vom alten Schmitz. Weil, der studiert Kunstgeschichte und braucht jeden Euro. Das Mistding soll nie wieder 105 Kilo anzeigen, erkläre ich ihm. Nie wieder! 90 Kilo, 80, meinetwegen auch drei Zentner. Aber keine 105, capito?

"Nö", sagt er. "Warum nicht?"

"Weil nur Versager so viel wiegen. Berlusconi zum Beispiel. Exakt 105 Kilo. Wer will schon so schwer sein wie Berlusconi?"

"Willy Millowitsch wog in seinen besten Zeiten auch über 100 Kilo."

"Damals durfte man das. Also halt dich ran."

Kunstgeschichte! Kein Wunder, dass der alte Schmitz Depressionen kriegt. Aber jetzt zu wichtigeren Themen. Das tägliche Training steht an. Wieder einmal stürme ich den Wilsdorfer Forst, markiere mein Terrain, scheuche Fuchs und Wildschwein auf. Dass es einmal Zeiten gab, in denen ich nicht gelaufen bin! Dass es immer noch Bevölkerungsschichten gibt, die ohne Sport leben können! Eigentlich sollte ich Missionar werden. Die Slums der Nichtsportler aufsuchen, Bewegung predigen, gesteinigt werden, den Märtyrertod erleiden. Julia, schluchzend an meinem Grab. Papst Benedikt, die Seligsprechung einleitend.

 

 

Und wie auf Kommando sehe ich eine Schulklasse am Ententeich herumlümmeln. Wohlstandsknirpse, in die Natur geprügelt, auf dass sie den Unterschied zwischen Laub- und Nadelbaum kennenlernen. Wer nicht an der Saftflasche nuckelt, manscht mit Froschlaich oder popelt in Kaninchengängen herum. Eine anorektische Lehrerin wirft sich heldenhaft in eine Entengrützeschlacht.

Aber da nahe ich. Der Hl. Udo, gelebte Athletik.

Zum Auftakt einmal locker um den Teich herum. Etwas Tempo herausnehmen, damit jeder mit den Augen folgen kann. Wie sie glotzen! Habt wohl noch nie einen Leistungssportler gesehen, ihr Konsumkids? Achtet auf die Beinarbeit. Die Körperhaltung. Die kontrollierte Atmung.

 

Sie sind wirklich baff. Kurze Auszeit für Kaulquappen und Kaninchen. Sogar die Lehrerin lässt ihre knochige Kinnlade fallen. Also gleich noch eine Runde, zum Mitschreiben. Als ich an der Klasse vorbeitänzele, höre ich, wie einer sagt: "Darf der das?"

Wie bitte?

Ich werde langsamer, bleibe schließlich stehen. Das Wasser im Teich schwappt leicht hin und her. Was soll das heißen: Darf der das? Brauche ich eine Sondergenehmigung für Schwerlastverkehr? Bin ich Gefahrengut? Ein Umweltsünder?

 

Keine Ahnung, wie es der Steppke gemeint hat, und ehrlich gesagt will ich es auch gar nicht wissen. Ich weiß nur eins: Dir zeige ich's, du Mistkäfer.

Umdrehen. Die Klasse fixieren. Da, einer wird rot. Der war's! Mein Hals bläht sich auf doppelte Breite auf. Meine Nüstern flattern. Dann stürme ich los.

Mit einem langgezogenen Schrei stiebt das Jungvolk auseinander. Bevor ihre Lehrerin auch nur gezuckt hat, bin ich an dem Lümmel dran. Wie der plötzlich flitzen kann! Darf der Pönzgen das? Nein, darf er nicht, doch das ist mir in diesem Moment schnuppe. Wir umrunden den Teich, einmal, zweimal. Der Rest der Klasse hat sich auf die Bäume gerettet oder in einen Kaninchenbau. Saftflaschen purzeln durch die Gegend, im Wasser machen sich die Kaulquappen über Vesperbrote her.

 

Natürlich bin ich schneller als der Giftzwerg. Nein, schneller nicht, aber ausdauernder. Wenn ich wollte, hätte ich ihn längst am Schlafittchen. Bloß macht es verdammt Spaß, ihn zappeln zu lassen. Eine Lehre für ihn, Training für mich. Schon stolpert er über eine Wurzel. Noch eine Runde, dann wird er entkräftet in den Teich plumpsen.

Da aber stellt sich mir seine Lehrerin in den Weg. Hätte ich ihr gar nicht zugetraut, der Klapperhexe. Sofort stoppe ich ab, schon wegen der Verletzungsgefahr. Eine Gefahr nur für mich, sie fällt ja weich. Außerdem ist sie eine Frau, auch wenn sie nicht so aussieht.

"Grundschnelligkeit in Ordnung, Ausdauer mangelhaft", keuche ich. "Eine Drei minus für den Knaben."

 

"Unverschämtheit!", kreischt sie. "Was fällt Ihnen ein?"

 

"Ich bin der neue Sportbeauftragte des Kreises. Unangemeldete Leistungskontrollen jetzt auch in der Grundschule. Das entsprechende Schreiben reichen wir nach." Ich schiebe sie zur Seite und jogge weiter.

So was nennt man nachhaltig, Leute! Diese Schüler haben im Wald was fürs Leben gelernt: Lauf oder stirb!

Und ich?

Mich grinst zu Hause Silvio Berlusconi an. Der Schlingel von Schmitz-Enkel hat die 105 auf meiner Waage einfach mit dem Bild des Cavaliere überklebt. Die Waage sei in Ordnung, schreibt er. Und Berlusconi wiege maximal 100 Kilogramm. Aber nur mit Anzug, Lackschuhen und viel, viel Pomade im Haar.

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