Udos Welt

Folge 45: Strünkeln

Ich hasse Strünkeln.

 

Noch zehn Minuten bis zum Start des Volkslaufs. Zehn Minuten, in denen mir klar wird, was für einen Fehler ich begangen habe. Jetzt ist es zu spät. Es gibt kein Zurück mehr. Über 500 Läufer würden erwartet, hieß es in den Vorberichten. Prima, dachte ich; eingerahmt von 499 Leibern, fällt nicht mal ein Udo Pönzgen auf. Kurz vor dem Startschuss die Überkleidung loswerden, sich ins wartende Feld schmuggeln, von der Masse verschluckt werden - das war mein Plan.

Was ich nicht bedacht hatte: dass sie in Strünkeln mehr als bloß einen Zehner anbieten. Erst kommen die Schülerläufe. Dann die Schülerinnenläufe. Die Jugendlichen-, Teenager-, Zahnlücken- und Bambiniläufe. Damit wäre die Hälfte des halben Tausends schon mal abgefrühstückt. Kaum stolpert das letzte Kid ins Ziel, wuchten die Nordic Walker ihre Wampen über die Startlinie. Gleich danach die Gesundheitswalker: ohne Zeitnahme, aber mit medizinischer Begleitung. Und jetzt geht es erst los! Die Jedermänner werden auf die Kurzdistanz entlassen, bevor sich die ganz harten Knochen an den Halbmarathon wagen. Wer blickt da noch durch?

Am Ende stehe ich mit einem Häuflein Verlorener (oder zu spät Gekommener) auf dem Strünkeler Sportplatz und warte auf den Startschuss. Argwöhnische Blicke: Will der mitlaufen? Die Walker sind doch schon weg! Vielleicht ist er für die Zielverpflegung zuständig. Aber wozu dann die Startnummer?

 

Ich glotze zurück. Jetzt nicht kneifen, Udo! Wen kannst du hinter dir lassen? Auf wen kannst du im Ziel mit den Fingern zeigen? Ich entdecke einen Greis von mindestens 80 Jahren sowie zwei Hausfrauen mit ähnlichem Hüftumfang wie ich. Das wird der härteste Vierkampf seit Menschengedenken!

Jetzt das Signal. Vor mir stiebt rote Asche empor; schon verlassen die vom Ehrgeiz Zerfressenen das Stadion. Mit einem Ausfallschritt schneide ich einer der Hausfrauen den Weg ab. Schön hinter mir bleiben, ja?

Nach 100 Metern wird mir schwarz vor Augen. Meine Pulsuhr spielt die Revolutionsetüde. Hab mich vom Anfangsfuror wohl ein wenig mitreißen lassen. Ganz ruhig, Udo! Noch 9900 Meter bis Strünkeln.

 

Plötzlich hält der Greis vor mir an. Der Schnürsenkel: aufgegangen! Frohlockend sprinte ich an ihm vorbei. Bis der sich erinnert, wie man eine Schleife bindet, stehe ich unter der Dusche. Wie viele habe ich hinter mir gelassen? Kurzer Blick zurück: alle drei! Das Hausfrauenduo und der Alte. Udo Pönzgen, Gesamtsieger in der Nichtläuferwertung! Ab jetzt werde ich mich nach vorne orientieren. Achtung, Kenia, ich komme!

Dann die erste Steigung. Früher als erwartet, steiler als erwartet und länger sowieso. Dieses verdammte Strünkeln! Die reinste Vulkanlandschaft, ständig geht es hoch und runter. Ob ich das letzte Stück vor der Kuppe lieber gehe? Rein taktisch und so? Im selben Moment trippelt der 80-Jährige an mir vorbei. Grinsend wie ein Haifisch! Zum Teufel mit der Taktik, an die alten Haxen hängen und beißen. Bergab werde ich einfach über ihn hinweg walzen.

 

Aber irgendwie klappt es mit dem Walzen nicht so recht. In einer Kurve am Fuß des Abhangs verliere ich den Greis aus den Augen. In diesen Kukidenttabletten muss irgendwas drin sein. Wieder ein Blick über die Schulter. O wei, Hausfrau eins robbt sich ran. Unaufhaltsam, mit gefletschten Zähnen und Gattenmörderblick. Der Volkslauf als Ventil für familiäre Unterdrückung. Und da soll ich das Opfer sein?

Niemals. Ich ignoriere die Hilfeschreie meiner Pulsuhr und beschleunige.

 

Drei Kilometer. Ich bin klatschnass geschwitzt. Feldweg, Fahrradweg, Nebenstraße. Strünkeln liegt einfach gottverlassen. An einer Hofeinfahrt steht ein Bauer mit krummem Rücken und tippt sich an die Stirn. Hinter ihm quiekt es. Wenn ich jetzt ein Schwein bei ihm bestelle, könnte das Schnitzel beim Zieleinlauf fertig sein.

Plötzlich eine Abzweigung. Ich zögere. Wo lang? "Links", keift es hinter mir, so recht übermotivierte Hausfrau. Während mich das Weib überholt, zeigt es auf den Boden, wo eine verwischte Masse Kreide einen nach links weisenden Pfeil erahnen lässt.

Mit zusammengebissenen Zähnen hefte ich mich an ihre Fersen. Den Blick immer auf ihre Pobacken gerichtet, bis mir von dem vielen Gewackel schlecht wird. Ich lasse sie ziehen.

Vorletzter! Und wenn die Dame hinter mir aufgibt? Verzweifelt kämpfe ich um den Anschluss und sehe an der nächsten Steigung eine ältere Läuferin gehen. Gerade wird sie Opfer der Hausfrauenwildheit. Auch ich bin kurz darauf neben ihr und verfalle in den Schritt.

"Seitenstiche", sagt sie. "Laufen Sie ruhig weiter."

 

"Gleich. Man muss es ja nicht übertreiben mit dem Ehrgeiz."

Den folgenden Kilometer bewältigen wir gemeinsam. Je nach Gelände laufend oder gehend. Meine Uhr dankt es mir mit schmeichelnden Piepslauten.

 

"Als ich Sie hinter mir hörte", sagt die Frau, "dachte ich zuerst, da kommt ein ganzes Grüppchen."

"Ich zähle ja auch für drei."

An der nächsten Gabelung suchen wir vergeblich nach der Markierung.

"Links", sage ich, und gleich danach entdecken wir einen Wegweiser: Strünkeln 1 km.

Meine Mitläuferin runzelt die Stirn. "Nur noch einen Kilometer?"

Als wir den Sportplatz erreichen, brandet Jubel auf. Streckenrekord!, wird gebrüllt, und ich frage mich, ob sie uns für Halbmarathonis halten. Auch meine Uhr ist zufrieden mit mir und zeigt als Endzeit eine 32:44 an. Nur der Sieger des Zehners, der kurz darauf hinter dem Führungsfahrrad eintrifft, findet die Sache nicht lustig. Der Veranstalter entschuldigt sich vielmals bei uns wegen der Fehlleitung und schenkt uns zum Trost ein Handtuch. Vor allen Leuten. Schade, dass man mich nicht aufs Siegertreppchen lässt, aber das sieht auch ziemlich zerbrechlich aus.

 

Macht nichts, ich bin milde gestimmt. 32:44, wenn das Andreas hört! Und ich bin nicht mal außer Atem.

Ich liebe Strünkeln.

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