Udos Welt

Folge 43: Schmerzen

"Immer noch Schmerzen?"

Andreas nickt. Zeigt mir sein Knie: da. Und da. Und da sowieso, schon immer. Grässlich! Laufen geht gar nicht. Gehen kaum. Hoffentlich kein bleibender Schaden. Demnächst Orthopädie.

 

"Also, ich halte ja nichts von Ärzten", sage ich und bestelle noch ein Kölsch. "Ärzte müssen immer was finden. Berufsethos, verstehst du? Sonst bräuchte man sie ja nicht. Also finden sie was, auch wenn du gar nichts hast."

"Aber ich hab was."

"Glaubst du."

Andreas schaut mich verwirrt an. "Bin ich bei diesem blöden Crosslauf nun gestürzt oder nicht? Das habe ich doch nicht geträumt, Udo!"

 

"Gestürzt bist du", bestätige ich. Und rufe ihm - falls ihm die Details entfallen sein sollten - selbige in Erinnerung: sein ungeschicktes Verhalten am Start; der slapstickreife Überschlag; die Nase tief im Dreck; das Johlen der vielen, vielen Zuschauer; sein knallrotes Gesicht beim Aufrappeln. "Und dann gleich noch ein Sturz unterwegs. Da war ich zwar nicht Zeuge, aber ich kann es mir lebhaft vorstellen: jugendlicher Übermut auf abschüssiger Strecke; der Verlust der Bodenhaftung; das schreiend komische …"

"Ja, ja", unterbricht er mich hastig. "Schon gut, es ist nun mal passiert."

"Julia war auch ganz fassungslos, als sie dich in der Matsche sah. Vor der Startlinie, das hat noch keiner gebracht!"

Schau an, da wird er knallrot, mein Andreas. Bereut wohl schon, mich um ein Gespräch unter vier Augen gebeten zu haben. Von Läufer zu Läufer. Bei einem oder acht bis zehn Kölsch. Ich natürlich: sofort alle Körperfunktionen auf Alarmstufe Rot! Ein Besäufnis unter Männern. Höchste Gefahrenlage!

 

Und dann jammert der Kerl nur wegen seinem Knie rum. Weichei!

"Nächstes Mal passe ich auf", verspricht er und prostet mir übereifrig zu. "Mir fehlt halt die Erfahrung. Aber was soll ich denn nun machen mit meiner Verletzung?"

"Ignorieren."

"Den Schmerz ignorieren? Nee, Udo!"

"Allerdings", sage ich und falte die Hände vor dem Bauch. Was nur dann Eindruck macht, wenn der Bauch entsprechend imposant ist. Wie bei mir zum Beispiel. "Und was kommt vor dem Ignorieren? Das Lokalisieren. Kann sein, dass dir das Knie weh tut. Aber eigentlich sitzt der Schmerz woanders. Wo?" Ich sehe ihn scharf an. "Im Kopf natürlich."

"Ich bin doch gar nicht auf den Kopf gefallen!"

"Sagst du. Dabei entstehen 95 % unserer Wehwehchen da oben." Ich tippe mir an den Schädel. "Wissenschaftlich längst erwiesen. Sei ehrlich, Andreas: Dir ist dein Sturz nur deshalb so schmerzhaft in Erinnerung, weil Julia dabei war."

Er schnappt nach Luft. Aus backenrot wird weiß und wieder rot. "Naja", stammelt er. "Kann schon sein."

"Vor ihren Augen wolltest du es besonders gut machen, und hast stattdessen den Schlammtaucher gegeben. Das ist dir peinlich, stimmt's?"

Er nickt verlegen.

"Weil du zu ihren Füßen herumgezappelt hast und alles lachte."

"Ja …"

"Weil du dich zum Deppen des Laufs gemacht hast."

 

"Meinst du?"

"Weil sie diese Szene für immer und ewig mit dir in Verbindung bringen wird. So lange du lebst! Sie wird in dir nur noch den Versager sehen, der …"

"Stopp!", ruft er in höchster Not und grapscht nach meinem Arm. "Bitte, sag so was nicht, Udo!"

"Nein? Okay, vielleicht nicht für alle Zeiten den Versager. Aber bevor sie dem Alzheimer zum Opfer fällt, schon."

"Mensch, Udo, mach mich nicht so fertig. Ich wollte von dir eigentlich hören, was du von Julia hältst … ich meine, in Bezug auf mich. Ob du dir vorstellen kannst, dass sie mit mir …" Er sieht mich hoffnungsvoll an.

"Was?", sage ich mit der Strenge eines Laufphilosophen, der die Menschen kennt.

"Dass sie mit mir zusammen beim Kölner Anti-AIDS-Lauf antritt." Er schluckt. "In der Pärchenwertung."

Mir fällt fast das Kölschglas aus der Hand. "Pärchenwertung? So was gibt's?" Wenn ich mich recht erinnere, hatte ich diesen Gedanken auch mal. Im Spaß natürlich nur, als Zuckerl für den Wilsdorfer Volkscross.

 

"Es ist ein Benefizlauf. Im Mai. Aber groß mit Presse und allem. Und da dachte ich, wenn ich schon eine so begabte Läuferin kenne … und eine so nette dazu …"

"Und eine so hübsche …"

"Genau", nickt er, froh über mein Verständnis. "Jedenfalls würde ich sie gern fragen, traue mich aber nicht. Julia kann manchmal ziemlich schnippisch sein. Sag mal, Udo", er gibt mir einen kumpelhaften Rippenstoß, "könntest du nicht für mich …?"

 

Ich starre ihn an. "Fragen oder laufen?"

"Fragen natürlich. Wäre echt ein Freundschaftsdienst!"

Jetzt bin ich sprachlos. Ich, der Philosoph und sprachlos! Was denkt dieser Kerl eigentlich, wer er ist?

"Weißt du, was, Andreas?", sage ich nach einem kräftigen Schluck. "Dein Problem ist wirklich nicht das Knie."

© copyright
Die Verwertung von Texten und Fotos, insbesondere durch Vervielfältigung oder Verbreitung auch in elektronischer Form, ist ohne Zustimmung der LaufReport.de Redaktion (Adresse im IMPRESSUM) unzulässig und strafbar, soweit sich aus dem Urhebergesetz nichts anderes ergibt.