Udos Welt

Folge 36: Das Jahr des Dicken

2012 wird MEIN Jahr. Basta. Da können sie sich auf den Kopf stellen, die Monis und Andreasse dieser Welt. Sämtliche Bestzeiten werde ich ihnen entreißen und sämtliche Freundinnen dazu. Muss gleich mal gucken, ob die Chinesen nicht das Jahr des Dicken ausgerufen haben. In China hat man eine Nase für so was. Ist ja auch das Land der Philosophen: erst Lao Tse und Konfuzius - und jetzt die Weltherrschaft. Lacht da wer? Der alte Schmitz, mein Nachbar, war vor Jahren mal drüben. In China, Pauschalreise mit Aldi. Und wenn du ihn hinterher fragtest, wie es war, kam nur ein: "Auch nicht groß anders als in Wilsdorf." So wie er es jedes Mal sagt, wenn er aus Bad Mergentheim zurückkommt. Aber das nur nebenbei.

 

Das Jahr des Dicken. Klingt doch besser als das Jahr der Ratte. Oder das des Krebses. Wer will schon Krebs? 2011 hatten wir das Jahr des Hasen. Laut chinesischem Kalender. Das sagt doch alles! Der Hase ist Andreas, 2012 wird er von mir gejagt und zur Strecke gebracht. Halali, mein Junge! Dir ziehe ich das Fell über die verliebten Ohren. 2012: das Jahr des Dicken. Das Jahr des Jägers.

Also, Leute, spätestens am 31.12. werde ich dem Kerl seine popelige Bestzeit entreißen. Entschlossenheit, dein Name ist Udo. Die Siegerpose übe ich schon mal vorm Spiegel. Aber trainiert wird auch, keine Sorge. Tapering war gestern, Weihnachten letztes Jahr. 2012 stehe ich in aller Herrgottsfrühe vor der Tür, blähe die Nüstern, nehme Witterung auf. Wo versteckt sie sich, die Herausforderung des Tages? Die unbezwingbare Wand, der knietiefe Schlamm, der freilaufende Kettenhund? Zeigt euch, ihr Widerlinge, Udo nimmt es mit jedem auf.

 

Aber wenn ich ehrlich bin, besteht die größte Herausforderung an einem solchen Morgen, zehn Meter geradeaus zu laufen, ohne sich in der Finsternis den Hals zu brechen. Die Gemeinde scheint neuerdings an der Straßenbeleuchtung zu sparen. Okay, war vielleicht doch ein Tick zu früh angesetzt, mein Spezialtraining. Ich könnte mich ins Zentrum von Wilsdorf vortasten, dort brennen einige Laternen. Bloß, dann sieht mich ja keiner.

Am folgenden Tag schiebe ich meinen Prachtkörper eine Stunde später auf den Gehsteig. Im Osten sorgt die Dämmerung für zartrosa Wolkenpracht. Was für ein Morgen! Zur Abrundung des Bildes fehlt nur noch einer: ich. Und deshalb drehe ich eine Runde mitten durch den Ort. So eine Tat braucht Zeugen: Menschen, die mich anfeuern, mir die Daumen drücken und mich aus dem Bett klingeln, sollte ich in den kommenden Monaten einmal schwach werden.

"Ich liebe euch alle!", dröhne ich durch die Gassen meines Heimatdorfes.

Leider ist es immer noch verdammt früh. Zwei jugendliche Zeitungsausträger sind die einzigen, die ich zu Gesicht bekomme. Der eine kneift ein Auge zusammen und glotzt mir mit dem anderen skeptisch entgegen, der zweite fängt an zu lachen.

"Ihr seid bloß Hasen", rufe ich den Schlafmützen im Vorbeilaufen zu. "Dieses Jahr kommt ihr in die Pfanne." Das verstehen sie natürlich nicht, die zwei.

 

Auf dem Marktplatz bläst mir ein heftiger Ostwind den letzten Rest Schmalz aus den Ohren. Auch hier: kein Mensch zu sehen. Doch, da kommt mein Großcousin Ludger um die Ecke! Als er mich erkennt, verschluckt er fast seine Zigarette.

 

"Wenn du deinen Stiefsohn triffst", rufe ich ihm zu, "richte ihm aus, dass ich einen Trainingspartner suche."

Ludger gibt ein röchelndes Geräusch von sich.

"Und zwar für diese Uhrzeit, klar?"

"Luca", stößt mein Großcousin heiser hervor, "trainiert jetzt nur noch mit jungen Mädchen. Falls du verstehst, was ich meine."

Na, da hat einer wohl andere Vorsätze für 2012 gefasst als ich. Ein Winken zum Abschied, und schon bleibt Lucas Stiefpapa hinter mir zurück, eine einsame, traurige Gestalt auf dem Weg zur Arbeit. Es sieht nicht gut aus für Ludger, den Kettenraucher. Das Jahr des Lungenkrebses, um es mit den Chinesen zu sagen.

So, und das war's auch schon mit meiner Runde durchs Dorf. Wilsdorf ist halt ein Nest. Morgen dasselbe noch mal, aber ein bisschen fixer.

Zuhause angekommen, laufe ich dem alten Schmitz in die Arme. Mein Nachbar steht in Hut und Trachtenjoppe auf dem Bürgersteig und wippt mit den Füßen.

"Na, Udo?"

"Alles bestens. Hab einen schönen Lauf gemacht. Nach … drüben." Meine Hand weist Richtung Ortsmitte.

"Drüben?"

 

"Ins Zentrum. Und weiter, bis zum anderen Ende von Wilsdorf."

Der alte Schmitz nickt versonnen. "Und? Wie war es?"

"Auch nicht groß anders als hier."

"Das dachte ich mir." Er mustert mich von oben bis unten, mit seinem wässrigen Greisenblick, von dem ich nicht weiß, ob er ein Zeichen für Grauen Star oder für Alzheimer ist. "Morgen wieder, Udo?"

"Morgen wieder, Herr Schmitz."

Ich sage ja: 2012 wird mein Jahr.

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