Udos Welt

Folge 35: Vorsätze

 

Die beste Gelegenheit, um sein Leben zu ändern, seinen Laufstil oder wenigstens die Trinkgewohnheiten, ist immer noch der Jahreswechsel. Ab jetzt werde ich nie wieder …! Für 2012 habe ich mir ganz fest vorgenommen … Und dann stoßen wir auf unseren Wagemut an, auf Enthaltsamkeit und eiserne Disziplin.

Arno hält nichts von solchen Versprechungen. Für ihn gibt es nur einen Feind, den inneren Schweinehund, und der lauert hinter jeder Ecke, hinter jedem Datum. Vor allem im Spätherbst, Ende November, wenn du dich an deine euphorisierten Vorsätze vom Jahresbeginn kaum noch erinnerst. Dann schlägt er zu, gnadenlos, macht Hackfleisch aus deinen Plänen. Deshalb findet Silvester täglich statt, sagt Arno: das Leben ein Kampf.

Ich halte natürlich auch nichts von guten Vorsätzen, schließlich bin ich Philosoph. Für mich ist das Leben ein Fluss, mit ständigen Richtungsänderungen. Da muss man flexibel bleiben. Stellt euch nur vor, ihr schwört zu Neujahr dem Alkohol ab - und im März rutscht Apfelschorle auf die Dopingliste. Außerdem wird 2012 unter Garantie eine Studie erscheinen, nach der sechs Ruhetage pro Woche die effektivste Trainingsmethode sind; nehmt euch also bloß nicht zu viel vor.

 

Wer so gelassen an die Sache herangeht, kann getrost Silvester feiern. Am 31.12. stehe ich mit einer Magnumflasche Sekt, eisgekühlt, vor Monis Wohnung. Die gesamte Läuferszene des Kreises ist geladen, sogar Petra, Julias greise Konkurrenz, nur Laufpapst Arno fehlt. Immer wieder muss ich erzählen, wie ich damals, in den Neunzigerjahren, meine Bestzeit gelaufen bin. Anfangs kann ich mich kaum erinnern, doch mit jedem Schluck Sekt werden die Bilder präziser. Das Wetter: säuisch. Die Konkurrenz: überheblich. Die Vorbereitung: knüppelhart.

"Und auf der Zielgeraden", rufe ich, "bekomme ich auch noch einen Tritt in die Waden. Aber das hat mich nur …"

Das Wort bleibt mir im Hals stecken. In diesem Moment spüre ich den erfundenen Tritt leibhaftig. Am Allerwertesten. Julia kommt herein - mit Andreas, dem Forsthausbewohner von Wilsdorf, im Schlepptau! Ich bin sprachlos.

"Angestachelt", sagt jemand.

 

"Was?"

"Angestachelt, wolltest du sagen. Der Tritt damals hat dich nur angestachelt."

"Genau. Und wie mich der angestachelt hat." Ich packe den Jemand am Kragen und schüttele ihn durch. "Wenn ihr mich da gesehen hättet", brülle ich, "ihr hättet mich nicht wiedererkannt. Regelrecht zum Tier bin ich geworden! Hab sie umgemacht, alle! Verdammte Kriecher!"

"Bravo!", höre ich ringsum. "Super, Udo!" Einige applaudieren sogar. Der Durchgeschüttelte nimmt vorsichtig meine Hand von seinem Kragen und weicht ein paar Schritte zurück.

"Beeindruckend", murmelt er. "Absolut nachvollziehbar, deine Bestzeit."

"Und jetzt brauche ich was zu trinken." Ich verziehe mich auf den Balkon. Andreas und Julia! Das darf nicht wahr sein! Nur weil dieser Dauergrinser seine Altersklasse beim Volkscross gewonnen hat? Solche Äußerlichkeiten imponieren dir, Julia?

Moni kommt. Ihre Sektfahne flattert im Abendwind. "Schön, dass ihr alle da seid", lallt sie und stützt sich mit dem Kopf an meiner Schulter ab. "Silvester alleine, das macht mich nämlich immer depersiv."

"Perversiv?"

"Nee, das andere." Schniefend wischt sie sich über die Augen, dass eine ihrer Plastikwimpern am Handrücken kleben bleibt.

 

Kaum ist sie zwecks Restaurierungsarbeiten im Bad verschwunden, schleicht sich Andreas an, der Wilsdorfer Neubürger.

"Na, Udo, alter Freund?", poltert er und legt mir einen Arm um die Schulter.

"Na?", kontere ich elegant. Hat wohl schon auf dem Herweg was gebechert, dieser Suffkopp. Zusammen mit meiner Julia!

"Was hast du dir für 2012 vorgenommen, Udo?"

"Nix. Und du?"

 

"Nicht mehr rauchen. War schon ein halbes Jahr clean und läuferisch super drauf. Aber dann der Stress mit dem Hauskauf und Umzug … auch privat ein paar Probleme. Da greift man halt nach dem Glimmstängel."

"Dann viel Erfolg." Wir stoßen an. In Gedanken gehe ich die Anwesenden durch. Verdammt, kein einziger Raucher! Keiner, von dem ich eine Kippe schnorren könnte, um mit ihr direkt vor Andreas herumzuwedeln.

"Ich schaff das", meint er kämpferisch. "Ganz bestimmt, Udo."

Gibt es unten vor Monis Haus keinen Zigarettenautomaten? Hier, Andreas, rauchen wir eine zum Abschluss - und ihm dann die Schachtel in die Hand drücken. Aber da gesellt sich Julia zu uns.

 

"Auf den Sport", stößt sie mit uns an und schaut mir - jawohl, mir! - dabei in die Augen, dass ich eine Runde ums Haus fliege und wieder sicher auf dem Balkon lande. "Nächstes Jahr", setzt sie hinzu, "trainiere ich richtig. Mit Udo."

Noch eine Flugrunde.

"Und ich", sagt Andreas, "knacke meine Bestzeit über zehn Kilometer."

"Die wo steht?", frage ich.

"Knapp unter 40 Minuten."

"Ich auch", sage ich und hebe mein Glas.

Kann ja keiner wissen, worauf ich anstoße: Ich werde seine Bestzeit knacken!

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