Udos Welt

Folge 34: Leben ändern

Kennt ihr das, Leute? Jemand setzt euch einen randvollen Teller vor. Gut. Ihr glotzt auf das Essen. Gut. Und dann habt ihr plötzlich das Gefühl, das Essen SCHAUT ZURÜCK!

In diesem Fall, sagt Arno, ist es Zeit für eine Ernährungsumstellung. Denn was da vom Teller nach oben schielt, sind die Fettsäuren. Behauptet Arno. Die bösen Säuren, die gesättigten. Klar, dass die Augen haben - Fettaugen, aber hallo - außerdem haben sie diesen übersatten, gelangweilten Wohlstandsblick. Besonders an Weihnachten.

 

Weihnachten! Erster Feiertag bei den Eltern, wie immer. Was es gibt? Eisbein mit Sauerkraut und Salzkartoffeln, wie immer. Die Tischdeko, die Sprüche meines Vaters, die Weihnachtsliederplatte - wie in jedem Jahr, seit ich das Wort Weihnachten kenne. Nur eines ist anders: die Augen. Sie blicken zu mir hoch, anklagend. Vielleicht wegen des Eisbeins. Beine braucht man fürs Laufen, und vielleicht wäre aus dem Schwein ein guter Läufer geworden, wenn man es nur gelassen hätte.

"Mama", sage ich.

"Ja?"

"Hast du nicht mal daran gedacht, etwas zu ändern?"

"Bitte? Woran?"

"Am Weihnachtsessen."

Entsetzt schaut sie mich an. "Schmecken die Kartoffeln nicht? Magst du eine andere Beilage? Zu Eisbein passen doch nur Salzkartoffeln!"

"Es geht nicht um die Kartoffeln."

"Früher haben wir vorm Essen gebetet", wirft mein Vater ein. "Aber dafür war sich der Herr ja irgendwann zu schade."

 

"Wie wär's mit etwas Gesünderem? Weniger Fett zum Beispiel. Weniger Schwarte."

Ratlos wechseln meine Eltern Blicke. "Wenn du nur ein halbes Eisbein willst", sagt mein Vater, "kriegt der Hund die andere Hälfte. Kein Problem."

Ich schüttele den Kopf.

"Kroketten?", schlägt meine Mutter vor.

Ich hole Luft. Die Augen auf meinem Teller zwinkern mir zu. Es reicht. Ich muss etwas ändern. Jetzt, in dieser Stunde. An Weihnachten. Während mein Vater einen großen Bissen Fleisch zum Mund führt, springe ich auf, stürze aus dem Zimmer, aus dem Haus, auf die Straße, in die kalte, klare Winterluft. Von meinen Eltern zu mir geht es einmal quer durch Wilsdorf, eine Strecke von vielleicht einem Kilometer, und ich bewältige sie laufend, im Sonntagsanzug, gebügeltem Hemd und sauberen Schuhen. Ich überhole Kirchgänger, weihnachtlich gestimmtes Volk, Kinder, die Silvesterknaller ausprobieren, dann bin ich zuhause, reiße mir die Kleider vom Leib, schlüpfe in Laufsachen, schnappe mir frische Unterwäsche, renne zurück, grüße die Kirchgänger von vorhin, winke den Kindern mit meiner Unterhose zu, stürme ins Haus meiner Eltern und setze mich an den Esstisch.

Mein Vater führt noch immer denselben Bissen Fleisch zum Mund.

"Ich dusche hinterher", sage ich, fast gar nicht außer Atem. Die frischen Sachen lege ich neben mir auf den Stuhl.

 

Meine Mutter schaut erst mich an, dann ihren Mann. Der schaut nur auf mich. Auf meine winddichte Laufjacke, auf meinen Thermoschal, meine Pulsuhr und das Schweißband.

"In der Tiefkühltruhe", sagt Mama ratlos, "hätte ich noch eine Tüte Kroketten. Sind halt keine selbstgemachten."

"Was ist das?", will mein Vater wissen und zeigt mit der Fleischgabel auf meinen Kopf. Dort trage ich natürlich Julias Stirnlampe.

 

"Du musst dein Leben ändern", deklamiere ich und stelle die Lampe auf Blinkmodus. "Das hat Rilke geschrieben. Auf eine Papierserviette. Anschließend hat er sich ein Eisbein bestellt. Guten Appetit wünsche ich."

Die Augen sind verschwunden. Zum ersten Mal seit Jahrzehnten schmeckt mir das Weihnachtseisbein. Meine Sportklamotten müffeln ein bisschen, aber das wird meinen Eltern nicht auffallen. Die sind mit ganz anderen Sachen beschäftigt.

Das neue Jahr kann kommen, würde ich sagen.

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