Udos Welt

Folge 32: Wintertraining

Früher gab es ja noch richtige Winter. Nicht die lauwarme Schmuddelbrühe von heute, sondern Tage, in denen dir der Nasenrotz kurz über der Oberlippe gefror. Stalingrad, sagte mein Vater immer, obwohl er gar nicht wusste, wo das Kaff lag.

 

Harte Winter waren gut für das Geschäft. Bei Temperaturen unter Null kamen die Leute in Scharen, um sich an meinen Immobilienangeboten zu erwärmen. Häuschen mit Fußbodenheizung! Doppeltverglast und komplettgedämmt! Draußen klirrte die Kälte, drinnen rollte der Rubel. Zehn Grad plus hält man in der zugigsten Fachwerkklitsche aus.

 

Aber das ist nicht die Hauptsache. Die Hauptsache ist, dass dir mit dem Ausbleiben von Kälte, Eis und Schnee die drei zentralen Argumente gegen das Training fehlen. Am Telefon die schnarrende Stimme von Menschenschinder Arno Berschinski; sofort geht dein panischer Blick zum Thermometer. Doch das Quecksilber denkt gar nicht daran zu fallen. Wir haben Dezember, könnte es da nicht glatt sein auf den Straßen? Die ersten Krokusse spitzen schon aus der Erde. Und die Schneeverwehungen im Wald? Polarluft über gefrorenem Boden, Frostbeulen und abgestorbene Glieder?

"Heute in kurzen Hosen, Meister!", meckert Arno zufrieden. "Wir haben Großes vor!"

Er vielleicht. Ich werfe mir alles ein, was ich bei den letzten Volksläufen abgestaubt habe: Traubenzucker, Energieriegel, Ekelgels, Bananenchips. Weiß gar nicht mehr, wie das geht: Laufen.

 

Selbst meine Joggingschuhe sehen aus, als hätten sie das mit der Bewegung verlernt. Wann kommt der E-Schuh auf den Markt? Ich würde gleich ein Dutzend davon nehmen.

"Klasse Wetter, was?", dröhnt Arno durch den Wald. "Und bis Weihnachten soll es so mild bleiben!"

Ich stöhne. Warum habe ich keine Grönländer als Eltern? Udo Pönzgen, nördlichster Iglumakler der Welt. Julia würde auch im Inuitfell was hermachen.

Arno blickt auf die Uhr. "Nicht schlecht, unser Tempo. Die Pause hat dir gut getan, Junge. Dann drehen wir gleich mal eine größere Runde."

"Wenn mir die Pause gut getan hat", japse ich, "sollten wir sofort wieder eine einlegen. Am besten bis zum Frühling."

 

Aber Arno lacht nur. Und weiter geht's. Von Wilsdorf sind wir mittlerweile so weit entfernt wie noch nie. Unmöglich, es auf zwei Beinen zurückzuschaffen. Meine letzte Hoffnung: dass uns der Bundesgrenzschutz aufgabelt. Nun biegt Arno auch noch ab, in hügeliges Terrain. Ich stelle mir das Gelände bei Schnee vor: die Eigernordwand im Wilsdorfer Forst. Tut mir leid, Arno, hab meine Eispickel zuhause vergessen.

"Jetzt nicht schlappmachen!", brüllt er mich nach oben.

Plötzlich Schritte hinter uns. Es scheint Leute zu geben, denen das Höhenprofil schnurz ist. Na warte, bis es wieder Winter wird! Gleich darauf hat uns der Typ eingeholt. Ich schiele zur Seite und spüre, wie mein Körper versteift: Andreas! Der neue Forsthausbewohner. Jetzt rieche ich auch sein Duschgel, mit dem wir ihn beim Volkscross zuschütteten. Trinkt er das Zeug neuerdings?

"Hallo, Udo! Tolles Laufwetter heute, stimmt's?"

"Nee."

"Nee?"

"Zu warm. Klima für Ungeziefer und Weicheier."

"Echt? Also, wegen mir kann es so bleiben."

Typisch. Zu jung für Stalingrad, dieser Andreas. Arno springt mir bei und meint, harte Winter würden harte Kerle produzieren, andererseits müsse man das Wetter nehmen, wie es sei, und er beschwere sich prinzipiell nicht.

 

"Stimmt auch wieder", nickt Andreas. Dann erzählt er von seinem neuen Zuhause, wie charmant die alte Bude doch sei, auch wenn es mehr zu renovieren gebe, als er anfangs geglaubt habe. Dabei zwinkert er mir zu. Weil die nächste Steigung naht, schweige ich, sehe Sternchen, lasse mir nichts anmerken und spiele beim Abwärtslaufen meine natürlichen Gewichtsvorteile aus. Noch hundert Meter bis zum nächsten Anstieg. Mir wird schwindlig.

"Ich bieg dann mal ab", meint Andreas, und schon ist er in einem Seitenweg verschwunden.

"Hast du gesehen, Arno?", röchle ich. "Er kapituliert! Er wusste, dass er die Steigung nicht mehr schafft!"

 

Doch da ist kein Arno. Ich torkele weiter, suche vergeblich Halt, stolpere über herumliegende Zweige, gehe in die Knie. Endlich kommt mein Trainer angedackelt. Keuchend.

"Spinnst du?", herrscht er mich an. "Das war mindestens ein Fünferschnitt auf dem letzten Kilometer! Wem wolltest du was beweisen? Mir oder dem Jungspund da?"

Ich lächle selig. Ein Fünferschnitt? Klingt prima. Und ganz sicher ein Grund, sich lang auf dem Waldweg auszustrecken. Gesicht zum Himmel. Ja, ich werde sterben, noch in dieser Minute. Ein weiteres Opfer des Leistungssports. In Rekordzeit zum Läuferparadies. Hallo, lieber Gott, bitte eine Wolke mit Laufband.

Aber dann bleibe ich doch nicht liegen. Verdammt kalt, der Waldboden. Ich glaube fast, der Winter naht.

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