Udos Welt

Folge 28: Tapering

Der Wilsdorfer Volkscross war gefühlte zehn Minuten vorüber, als Arno anrief.

 

"Training, mein Junge. Wer rastet, rostet."

Hatte der Kerl noch alle Tassen im Schrank? "Training? Jetzt? Wo ich noch mitten in der Nachbereitung stecke?"

"Nach dem Lauf ist vor dem Lauf. Also los!"

"Und wer beantwortet dann die 140 Mails in meinem Postfach? Du vielleicht?"

Okay, da war mir im Eifer des Gefechts die Kommastelle verrutscht, aber ein Arno Berschinski ließ sich zur Not sogar von 14 Mails abschrecken.

"Na, gut", machte er sofort einen Rückzieher. "Vielleicht hast du recht, und es ist Zeit für eine Taperingphase. Gönnen wir uns eine Woche Pause."

 

Eine Woche für 14 Mails? Das Zehnfingersystem hat Arno garantiert nicht erfunden. Aber darum ging es in diesem Moment nicht. Es ging um die Vokabel, mit der er die Trainingspause begründet, um nicht zu sagen: philosophisch veredelt hatte. Tapering! Sofort konsultierte ich alles an Laufhandbüchern, was als gut und teuer galt: Steffny, Strunz, Greif, Baumann, Wessinghage. Sogar den DAK-Ratgeber, der laut Arno höchstens Osterhasenniveau hat (was auch immer das heißt).

Und da fiel es mir wie Schuppen von den Augen: Tapering war die Zauberformel, nach der ich mein Leben lang gesucht hatte. Das Wort der Wörter! Udos Allzweckwaffe! Keinen Bock auf Laufen? Egal, tapern wir eine Runde. Der Freifahrtschein für Bewegungsphobiker! Ab jetzt wird mein Dasein aus brutalstmöglichem Tapering bestehen, aber hallo. Nie wieder durch den Wald hetzen!

Nach dieser Offenbarung blieb ich erst einmal wie gelähmt im Sessel sitzen. Eine Viertelstunde. Eine halbe Stunde. Wahnsinn, dieses Tapering. Es funktionierte! Wann hatte ich mich jemals so gut gefühlt? So erholt? Ich hätte glatt wieder trainieren können.

Stattdessen rief ich Julia an.

 

"Magst du mir bei einer Einheit Tapering Gesellschaft leisten?"

"Bitte, was?"

"Du, ich bin massivst in der Taperingphase. Weiß gar nicht, wo mir der Kopf steht vor lauter Tapern! Mach doch einfach mit."

"Wenn ich ehrlich bin, habe ich momentan zu gar nichts Lust."

Ihre Volkscross-Enttäuschung, klar. Aber heute zog das nicht. "Dann ist Tapern genau das Richtige. Du bist übertrainiert, Julia, Blockade im Kopf, die Beine brauchen dringend eine Pause."

"Meinst du wirklich?"

"Wie hätte ich sonst meine Rekorde erzielt? Durch Tapering bis zum Erbrechen."

Das sah sie ein. Ich brauchte nur an meine Fabelzeit aus den Neunzigern zu erinnern, schon war sie Wachs in meinen Händen.

 

Wir gingen also tapern. Eine Trainingspause vom Feinsten. Erst ins Kino, Nachmittagsvorstellung. Die Füße auf der Sitzreihe vor uns, zwecks Muskellockerung. Dann auf ein Kölsch um die Ecke. Aber direkt vor der Kneipe parken, um bloß keinen Schritt zu viel zu riskieren. Nach dem sechsten Kölsch meinte Julia, das sie jetzt aber eine ziemlich krasse Art des Taperings, und wenn sie so weitersaufe, könne sie ihre Form vergessen.

Wo ihr nächster Lauf sei, wollte ich wissen.

Sie wurde rot. "Die Kreismeisterschaften über 10.000 Meter. Ich bin gemeldet, aber vielleicht sollte ich absagen."

"Absagen? Nee, Bestzeit laufen. Aber nur, wenn du weiter taperst. Unter meiner Aufsicht."

 

"Schlimmer als in Wilsdorf kann es ja nicht kommen", seufzte sie und bestellte noch eine Runde.

Es wurde ein grandioser Abend. Nach Kölsch Nummer acht beschlossen wir, einen Bestseller zu schreiben: "Tapering, aber richtig." Gesponsert vom deutschen Brauereiverband. Noch zwei Kölsch später verriet mir Julia, was ihre Konkurrentinnen Petra und Moni unter ihren Laufklamotten trugen, und irgendwann rief uns der Wirt ein Taxi.

"Aber immer hübsch langsam, guter Mann!", brüllte ich vom Rücksitz. Julia kicherte sich eins. "Wir sind nämlich voll im Tapering-Stress!"

Erst als ich am nächsten Morgen mit einem Betonschädel und pelziger Zunge aufwachte, wurde mir bewusst, dass man es auch mit dem Tapering übertreiben kann.

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