Udos Welt

Folge 25: Der Volkscross

Nun ist er Geschichte, der 19. Wilsdorfer Volkscross.

Und eins kann ich euch sagen: Alleine Ludgers fassungsloser Gesichtsausdruck war die Austragung wert. Als er kapierte, wer den Lauf gewonnen hatte, mutierte mein Großcousin zum Säulenheiligen. Seine Kinnlade klappte zehn Zentimeter nach unten, um eine geschlagene Minute in dieser Stellung zu verharren. Eine Fliege summte an der offenen Mundhöhle vorbei, drehte eine Schleife, überlegte es sich dann aber doch anders und zog weiter. Erst als ihm seine brennende Zigarette die Finger versengte, kam wieder Leben in Ludger.

 

Und all das nur, weil sein komischer Patchworksohn als Erster über die Ziellinie stürzte!

"Luca", röchelte Ludger. Und dann, wieder bei Stimme: "Du Titan!" Der Knabe - elend lang, krummer Rücken, erster Flaum unter der Nase - schaute ertappt in Richtung des Geschreis. Er war eben dabei, sich beim Zweitplatzierten wegen seines Endspurts zu entschuldigen.

Okay, mit Lucas Sieg hatte niemand rechnen können. Dabei war sein Laufstil verräterisch. Ein zappliger Schlacks, der nicht wusste, wohin mit seinen überdimensionierten Gliedmaßen: der Usain Bolt von Wilsdorf! Zu Beginn wackelte er in der Spitzengruppe mit und trat den anderen so lange in die Haxen, bis die ihn nach hinten schickten. Was er auch brav tat. Kurz vor Ende aber tauchte er plötzlich hinter den beiden Führenden auf und vernaschte sie im Zielsprint. Jeder glotzte überrascht, Luca am allermeisten.

Und natürlich mein Großcousin. Der fiel mir um den Hals, was eine ziemlich grässliche körperliche Erfahrung war. Meine Backe, auf die er mir einen nassen Verwandtschaftskuss drückte, stinkt heute noch nach Nikotin.

"Hast du das gesehen?", grölte Ludger, dem die Rührung aus sämtlichen Raucherporen drang. Gleich würde er anfangen zu flennen! "Der Junge ist klasse. Ein Juwel!"

"Das Juwel bin ich", knurrte ich, während ich mich aus seiner Umklammerung befreite. "Ohne mich gäbe es den Volkscross nicht."

"Und ohne mich keine Genehmigung", grinste er, nun wieder ganz Schreibtischfuzzi.

 

Beim Siegerinterview war der fixe Luca dann weniger fix. Für seine zweieinhalb Antworten brauchte er ungefähr so lange wie für die acht Kilometer durch den Wald. Stotter, stotter, drucks. Zur Strafe knutschte ihn Moni einmal quer über das Gesicht ab, dass ihre Plastikwimpern quietschten. Luca wurde knallrot und kratzte sich aus lauter Verlegenheit zwischen den Beinen. Sein Ersatzdaddy barst trotzdem vor Stolz.

"Der Junge hat Talent", bestätigte sogar Arno. "Ich weiß noch nicht, wozu, aber Talent hat er."

Ähnliches konnte man von Moni sagen. Bei der Übergabe der Preise tanzte sie dermaßen exaltiert und ausdauernd um die Geehrten herum, dass man sich fragen musste, warum sie für läppische achttausend Meter fast 50 Minuten gebraucht hatte. Vielleicht sollte sie das nächste Rennen auf einer Bühne bestreiten. In Stöckelschuhen!

Aber wen interessiert schon eine Moni? Sie war bloß der Ersatz für Julia, die sich nicht zur Siegerehrung getraut hatte. Ich erfuhr erst abends von ihrem ganz persönlichen Drama: Seitenstechen. Aufgabe kurz vor dem Ziel.

"Bitte besuche mich nicht", hauchte sie entkräftet in den Hörer. "Ich will alleine sein."

"Du, das verstehe ich. Verstehe ich völlig. Soll ich morgen kommen?"

"Es hat so weh getan. Erst rechts, dann links, dann überall. Schon kurz nach dem Start!"

Ich litt mit ihr. Bekam sogar ebenfalls Seitenstechen. Beim Telefonieren!

"Der Druck, Udo. Er war einfach zu stark. Diese Erwartungshaltung von allen möglichen Leuten."

 

Seitenstechen? Es musste mein schlechtes Gewissen sein, das mir da in der Hüfte piekste.

"Alles meine Schuld", sagte ich. "Ich hätte dich niemals so einspannen dürfen. Beim Laufen muss der Kopf frei sein. Regel Nummer eins."

 

"Genau", flüsterte sie. "Und deshalb brauche ich jemanden wie dich, der mir den Rücken stärkt. Wie zuletzt in Krottwinkel."

"Krottwinkel…" Jetzt flüsterte ich ebenfalls. Laufen setzt Glückshormone frei, man liest es überall. Aber dass davon auch Leute wie ich betroffen sind, hat die Forschung noch nicht herausgefunden.

"Beim nächsten Mal bist du wieder dabei, Udo, ja? Und trainieren musst du mich auch."

"Alles", sagte ich heiser. "Alles, was du willst. Wir zwei mischen die Szene auf, das garantiere ich dir."

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