Udos Welt

Folge 21: Kreuzweg

 

Das Spektakulärste an meinem ersten Lauftraining mit Arno war die Tatsache, dass wir unterwegs einen anderen Läufer ÜBERHOLTEN. Einen 80-Kilo-Hänfling, auch das noch. Gut, der Typ war einen guten Kopf kleiner als ich, sein Körpergewicht verteilte sich also eher in der Breite. Außerdem band er gerade seinen Schnürsenkel, als wir an ihm vorbeizogen. Na und? Arno meinte, der Mann sei so oder so am Ende, man sehe es an der Art, wie er die Ohren angelegt habe. Der andere, nicht Arno. Und dann die Flecken in seinem Gesicht, während er mit dem Schnürsenkel kämpfte. Eindeutig Selbstaufgabe. Kurz vorm finalen Zerbröseln, die arme Sau.

Ja, wahrscheinlich hatte er uns kommen gehört, schon die ganze Zeit. Erst Arnos rhythmisches Schnaufen, dann meinen Gazellenschritt. Der Atem des Gegners im Nacken. So was zermürbt. Hätte ich auch nicht lange ausgehalten. Einziger Ausweg: abtauchen, um von der eigenen Schwäche abzulenken. Mit zitternden Fingern nach den Schnürsenkel tasten. Und wenn er nun Schuhe mit Klettverschluss getragen hätte?

Ich sehe Arno noch das Zeichen geben: jetzt! Den kriegen wir! Ich, nach dem ersten Schreck: Angriffsstellung. Die aerodynamischste Position, zu der ich fähig bin, ein Energiebündel vom Hypothalamus bis zur Fußsohle. Dann auf die Überholspur. Die Wilsdorfer Baumriesen fliegen nur so an mir vorbei. Der Schnürsenkelbinder schaut auf, heuchelt Überraschung. Dabei wusste er genau, was ihm blüht! Sein Blick gleitet über die endlosen Weiten meines Körpers. Fassungslos.

Etwas zerbricht in ihm.

 

"Arno!", japste ich dreißig Meter weiter. "Ich kann nicht mehr."

"Doch, du kannst."

"Ich kotze gleich!"

"Kotzen ist viel anstrengender als Laufen. Also lauf."

Er jagte mich noch einen halben Kilometer durch den Forst, dann brach ich zusammen. Das Duell gegen den Hänfling hatte meine letzten Reserven aufgebraucht. Arno sah auf die Uhr, nickte zufrieden und warf einen abschätzenden Blick zurück.

"Anderthalb Kilometer. Nicht schlecht fürs erste Mal."

"Und nicht überholt worden", keuchte ich. "Von keinem Menschen. Verstehst du, Arno: Seit ich laufe, bin ich noch nie überholt worden! Niemals! Ich bin reif fürs Guinness Buch der Rekorde."

Statt einer Antwort holte Arno ein Stück Kreide aus der Tasche und markierte einen Stein am Wegesrand mit einem dicken roten Kreuz.

"Ein Gedenkstein?", mutmaßte ich. "Für das Opfer von eben?"

"Morgen", entgegnete er, "laufen wir zweihundert Meter mehr als heute. Übermorgen vierhundert. Und so weiter."

"Und so weiter? Dann sind wir nächste Woche ja schon bei der doppelten Strecke!"

 

"Und übernächste bei richtigem Sport."

"Arno, das ist Archipel Gulag!"

"Nein, das ist Training. Jetzt lass uns zurückgehen. Ganz langsam, als Erholung."

Von wegen Erholung! Die bekam ich erst abends, bei Glotze und Chips. Doch auf den Abend würde ein neuer Morgen folgen, das war mir klar, und deshalb legte ich die Chips beiseite und radelte in den Wald. Arnos Kreuz wischte ich sorgfältig weg, um stattdessen ein neues weiter vorne zu machen. Etwa dreihundert Meter näher an meinem Haus. Wenn ich die Strecke jedes Mal um dieses Maß verkürzte, waren wir nächste Woche erst bei … keine Ahnung, wo wir dann waren. Mein zerebrales System befand sich bereits im Tiefschlaf.

"He, he", staunte Arno tags darauf. "Du schlägst aber ein flottes Tempo an, Udo!"

"Klar", grinste ich. Das Wort "Kurzstreckentempo" verkniff ich mir.

 

Aber irgendetwas stimmte nicht. Mein Stein kam, das Kreuz fehlte. Vielleicht befand es sich doch erst am nächsten. Auch nicht. Am übernächsten, überübernächsten: Fehlanzeige. Verdammt, es hatte doch in der Nacht nicht geregnet! Standen die Wilsdorfer Rehe neuerdings auf rote Kreide?

"Wirklich, ein hübsches Tempo", knurrte Arno zufrieden.

Mir quollen bereits die Augen als Tennisbälle aus dem Gesicht. Und dann kapierte ich. Wir kamen nämlich an der 1500m-Marke vorbei, also genau dort, wo Arno gestern sein Kreuz gemalt hatte. Und dort war auch nichts zu sehen - natürlich nicht. Stattdessen liefen wir noch ziemlich genau dreihundert Meter, bis uns das rote Zeichen empfing.

"Du Schwein", knirschte ich unhörbar. "Du elender Menschenschinder!"

"Hast du was gesagt?", fragte Arno freundlich.

Nein, hatte ich nicht. Nie wieder würde ich etwas fragen können. Hatte Schaum vorm Mund, ein Messer in der Lunge und jede Menge Gewaltfantasien.

"Moment!", rief Arno, als ich vor dem Kreuz in die Knie ging. "Wir wollten heute doch weiter laufen als gestern."

Noch weiter?

 

In diesem Moment raschelte es im Gebüsch, und der 80-Kilo-Hering kam aus dem Unterholz gesprungen. Rachedurst blähte seine Nüstern. Fröhlich winkend zog er an Arno und mir vorbei. Seine Schnürsenkel hatte er mit extra starkem Tape umwickelt, dass sie ihm in der Stunde des Triumphs bloß nicht in die Quere kamen.

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