Udos Welt

Folge 20: Hier läuft der Philosoph

Zum Glück schmerzte der Arm auch noch am nächsten Tag. Ich rief meinen Laufkumpel Arno an und erklärte ihm, dass wir unser Premierentraining verschieben müssten. Auf unbestimmte Zeit.

"Seit wann läufst du auf den Händen?", bellte er, gab aber schließlich nach.

Tags darauf war es schon schwieriger, ihn zu überzeugen, und noch einmal 24 Stunden später ließ er überhaupt nichts mehr gelten. Weder den Ausschlag, den ich von der zu dick aufgetragenen Heilsalbe bekommen hatte, noch eine aufziehende Erkältung.

"Alles psychosomatisch", behauptete er und drohte, mich am nächsten Morgen persönlich in den Wald zu prügeln.

"Ich werde der Erste sein, bei dem die Nase schneller läuft als der zugehörige Mensch", klagte ich. Keine Chance. Um sieben Uhr früh stand Arno vor meiner Tür und drückte den Klingelknopf, bis ich in Sportklamotten vor ihm Meldung erstattete.

 

"Sehr gut", nickte er mit zufriedenem Blick auf meine schweißnasse Stirn. "Das Aufwärmprogramm hast du ja schon hinter dir. Dann mal los."

 

"Wohin fahren wir?", seufzte ich. Vor gut 200 Jahren lautete die Frage noch: Wo geht es zur Guillotine? - aber der Sinn war derselbe.

"Fahren?" Arno schüttelte den Kopf. "Wir laufen von hier aus. Ab heute wird Sport getrieben, mein Lieber."

"Apropos." Vorsichtig hob ich einen Finger. "Du weißt ja, dass ich der Philosoph unter den Läufern bin."

Stumm zog Arno die Brauen zusammen.

"Und wir Philosophen haben das Credo aller erfolgreichen Athleten verinnerlicht."

"Das da wäre?"

"Rennen gewinnt man im Kopf." Bevor er widersprechen konnte, tippte ich gegen meinen Schädel: "Hier oben werden Sieger gemacht, alte Regel. Und deshalb muss jede Laufstrecke erst einmal geistig bewältigt werden, verstehst du?"

Arno sah mich an und schwieg.

 

"Also, was mich betrifft, jedenfalls", fuhr ich fort. "Wenn ich so eine Distanz vor dem Start nicht in Gedanken ablaufe, funktioniert es nicht."

Arno schwieg noch immer. Schließlich hob er eine Hand, kratzte sich hinterm linken Ohr und sagte: "Aha."

"Genau."

"Gedanklich bewältigen, sagst du?"

"Unbedingt."

"Okay. Machen wir."

"Machen wir?", gab ich verblüfft zurück.

 

"Ja, machen wir." Er lehnte sich mit dem Rücken gegen sein Auto, ließ sich die Morgensonne ins Gesicht scheinen und schloss die Augen. "Kennst du den Weg von hier durch den Wald bis Schümmerich?"

"Klar."

"Den laufen wir jetzt gemeinsam ab. In Gedanken."

"Den ganzen Weg?"

Er nickte. Ich stellte mich neben ihn und schloss ebenfalls die Augen. Die komplette Strecke bis Schümmerich, bei dem piepte es wohl! Da holte man sich ja beim Denken einen Wolf. Lieber beamte ich mich Mr.-Spock-mäßig direkt ins Nachbardorf und drehte ein paar lockere Runden um Julias Haus. Vielleicht saß sie ja im Nachthemd am Frühstückstisch.

Und so standen wir eine ganze Weile mit geschlossenen Augen in der Septembersonne, ich selig lächelnd, Arno grimmig wie immer.

 

Dann räusperte er sich. "Und? Wo bist du gerade?"

"Ich? Äh … noch nicht so richtig weit, wenn ich ehrlich bin. Es geht ja auch die ganze Zeit bergauf."

"Wo, Udo?"

"Etwa da." Ich zeigte auf das Haus des alten Schmitz.

Arno holte tief Luft. "Wir zwei", sagte er leise, aber mit drohendem Unterton, "wir zwei laufen jetzt. Mit diesen unseren Füßen und total in echt. Nix Gedanken, du Philosoph! Und wenn du dich weigerst, klingele ich sämtliche Nachbarn aus den Betten und lasse sie La Ola für dich machen. Ist das klar?"

"Völlig klar", nickte ich. "Ich komme mit. Und falls mich die Sanis nicht mehr ins Leben zurückholen sollten: Ich will verbrannt werden. In so eine Urne passt man auch mit 105 kg."

© copyright
Die Verwertung von Texten und Fotos, insbesondere durch Vervielfältigung oder Verbreitung auch in elektronischer Form, ist ohne Zustimmung der LaufReport.de Redaktion (Adresse im IMPRESSUM) unzulässig und strafbar, soweit sich aus dem Urhebergesetz nichts anderes ergibt.