Udos Welt

Folge 19: Trimm dich

Im Wilsdorfer Forst gibt es zwei kleine Ententümpel, ungefähr fünfzehn illegale Müllhalden sowie einen Trimm-dich-Pfad. Von der Existenz des Letzteren hatte ich bis vor Kurzem keine Ahnung. Aber dann entdeckte ich, als ich die Volkscross-Laufstrecke mit dem Rad abfuhr, an einem Baum ein in Würde ergrautes Hinweisschild: "Zum Trimm-dich-Pfad". Buchstaben wie Runen und ein langer Bart aus Flechten.

 

Ja, der stamme noch aus den Siebzigern, sagte mein Nachbar, der alte Schmitz. Die Trimm-dich-Bewegung, er erinnere sich. Dabei zog er ein Gesicht wie mein Opa, wenn er vom Krieg erzählte: Viele ließen ihr Leben beim Rumpfbeugen … Dem Liegestütz fiel Deutschlands Jugend zum Opfer …

Als ich das zweite Mal an dem Schild vorbeikam, war der Flechtenbart noch etwas länger und der Pfad halb zugewuchert. Im Bewusstsein, einen unbekannten Kontinent zu erforschen, schlug ich mich durchs Unterholz. Wilsdorfer Urwald, seit Jahrhunderten nicht betreten. Aber jetzt kommt Udo! Da, die erste Station: blaues Rechteckschild, verwitterte Schrift und eine rätselhafte Abbildung. Hubschrauber spielen? Nach Lianen grapschen? Nein: Armkreisen! Machen wir zwanzig rechts, zwanzig links. Aber nicht zu doll, die Würgeschlangen könnten bei der Siesta gestört werden.

 

So, das hätten wir. Was sind schon ein paar Leibesübungen, wenn es um die Entdeckung neuer Welten geht? Nächste Herausforderung: Ringe. Folterwerkzeuge à la Hambüchen. Was wollt ihr sehen, Leute? Udo im Handstand? Tsukahara-Abgang? Na, belassen wir es beim einfachen Baumeln. Das Metall schneidet schon genug in die Handflächen. Wenn Julia mich so sehen könnte! Udo Pönzgen, der Kolumbus der Wilsdorfer Sportszene.

Vielleicht benennen sie mal den Trimm-dich-Pfad nach mir. Wenn der Bart ab ist. Feierliche Wiedereröffnung durch den Bürgermeister, Jagdhornbläser, Grußworte des Landrats, während er das Band durchschneidet. Anschließend bringt Namensgeber U.P. der versammelten Jugend die Anforderungen des Parcours nahe. Allgemeine Fitness als wichtigste Vorbedingung! Noch einmal die Jagdhornbläser.

Plumps. Jetzt reicht es aber mit den blöden Ringen! In beiden Händen habe ich grellrote Kerben. Vielleicht sollte lieber Hambüchen persönlich diese Station einweihen. Komisch eigentlich, dass das Metall so glänzt. Wie abgegriffen von häufigem Gebrauch.

Die Erklärung folgt auf dem Fuße. Auf zwei Füßen, genauer gesagt. Bei der dritten Station, einer Reckstange in Brusthöhe, tritt eine Eingeborene aus dem Busch. Pludrige Baumwollhosen, Stirnband über dem Grauhaar, Kampfeslust im Blick.

 

"Oha! Ein Gleichgesinnter", kräht die Dame und hüpft ans Reck, dass die Beckenknochen knirschen. "So junge Leute sieht man selten hier trainieren." Schwupps, taucht sie zu einem kecken Umschwung ab. "Genauer gesagt, überhaupt nie", ruft sie, wieder in Ausgangsstellung. Ich will etwas entgegnen, doch da kreiselt sie bereits weiter. Ihr Baumwollungetüm flattert. Das Grauhaar nicht, das ist nämlich kurzgeschoren. "Sehen Sie das?", ruft sie adrenalinsatt, "das tut vielleicht gut", nächster Schwung, "das hält jung, glauben Sie mir das?"

 

Mein Gott, die Alte ist voll auf Droge! Dieses Dauerkreiseln kann nicht gesund sein. Das geht doch auf die Hirnwindungen! Nein, kampflos werde ich dir meinen Kontinent nicht überlassen, Oma!

"Früher", schreit sie, während sie zur ultimativen Mehrfachrolle ansetzt, "früher war ich Leistungsturnerin. Das sieht man noch, stimmt's? Sieht man das?" Ihre Grobheit namens Hüfte schwingt nach hinten, um sich dann der Reckstange ans kalte Metall zu werfen. Klarer Fall von Ersatzbefriedigung. Die rotierende Alte surrt sich vor meinen Augen ins turnerische Nirwana, bevor sie austrudelt und wie von Geisterhand geführt wieder in die Ursprungsstellung zurückkehrt.

"So, und jetzt Sie", ruft sie mit keckem Hüpfer auf den Waldboden. Ohne mich noch eines Blickes zu würdigen, verschwindet sie im Unterholz.

"Unzivilisiertes Volk", murmele ich. Aber irgendwie ist mein Entdeckerelan dahin. Wie soll ich drei Drehungen auf einmal schaffen? Vielleicht eine. Versuchen kann man es ja. Ich umklammere die Stange, wuchte mich nach oben - und lande zusammen mit Station drei auf der Erde. Scheint nicht für Doppelzentnerkolosse wie mich ausgelegt zu sein, dieser Siebzigerjahre-Parcours. Während der Ölkrise wurde halt an allem gespart.

Obwohl mein Arm schmerzt, zerre ich die Stange und die gesplitterten Holzpfosten hinter den nächsten Busch. Mein Gott, ist mir schwindlig. In der Nacht dreht sich mein Bett öfter um mich herum, als es die Turnoma in ihrem ganzen Leben jemals schaffen wird. Zumindest nicht in Wilsdorf.

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