Udos Welt

Folge 14: Säbelzahntiger

Von nun an trainierte ich regelmäßig mit Arno. Ich bekam Rückenschmerzen, Gliederschmerzen, Ausschlag an den unmöglichsten Stellen und viele andere schlimme Dinge. Am grässlichsten aber klang ein Phänomen, das mir bislang unbekannt war: Überkompensation. Keine Krankheit, beruhigte mich Arno, sondern ein Trainingseffekt.

"Das haben wir unseren Vorfahren zu verdanken. Die Gene, verstehst du? Stell dir einen Neandertaler in der Steinzeit vor. Wenn der zu langsam war, um dem Säbelzahntiger zu entkommen, merkte sich das sein Körper und reagierte in der nächsten Ruhephase darauf. Durch größere Energievorräte, mehr Muskelaufbau, bessere Ausdauer. Wenn dann die Bestie wieder vorbeischaute, hatte sie das Nachsehen. Ganz einfach."

"Und das nennt man Überkompensation?"

"Korrekt."

"Aber wenn der Neandertaler beim ersten Mal zu langsam war, gab es doch gar kein zweites Mal für ihn. Weil ihn dann der Säbelzahntiger längst verputzt hatte."

 

"Theoretisch", entgegnete Arno finster. Er hasst es, wenn man an seinen Trainingsplänen herummäkelt. "Praktisch gesehen, reden wir hier von der Spezies der Neandertaler, verstehst du, vom Neandertaler schlechthin. Und wenn da einer draufging, weil schwere Beine, gab es immer noch einen Kollegen, der das Ganze beobachtete und seine Lehre daraus zog."

"Durch Überkompensation?"

"Korrekt."

"Du meinst, das hat die Natur so eingerichtet?"

"Ebenfalls korrekt."

Ich überlegte. Klang logisch, was Arno da von sich gab. Unsere Anlagen, seit Jahrmillionen gewachsen. Die Evolution, Kampf ums nackte Leben. "Aber was", wandte ich ein, "wenn die Überkompensation auch beim Säbelzahntiger greift? Das Kätzchen merkt, dass es zu langsam für den Neandertaler geworden ist, weshalb sein Körper in der nächsten Ruhephase darauf reagiert. Durch größere Energievorräte, mehr Muskelaufbau …"

"Unsinn!", rief Arno. "Bei den Tigern läuft das anders. Das sind schließlich Tiere, keine Menschen. Und deshalb sind sie ausgestorben, die blöden Viecher. Oder hast du schon mal einen leibhaftigen Säbelzahntiger gesehen, hä?"

"Genauso wenig wie einen Neandertaler. Die sind nämlich auch ausgestorben."

 

"Sind sie nicht!" Mit dem Fingerknöchel pochte Arno gegen meine Brust. "Tief in uns drin sitzt er noch, der Neandertaler. In dir, in mir, in uns allen."

"In Julia auch?"

"Worauf du einen lassen kannst. Nur darum laufen wir. Aus Angst vor dem Säbelzahntiger! Das ist ein Urtrieb, Udo."

Wieder überlegte ich. Mangelnde Logik konnte man Arnos Ausführungen wirklich nicht vorwerfen. Andererseits war ich Laufphilosoph, da muss man den Dingen auf den Grund gehen. Auch wenn es schmerzt. "Mein persönlicher Säbelzahntiger", sagte ich, "war meine Mutter. Die hat mir immer so viele leckere Sachen gekocht, dass mir fast schlecht wurde. In der folgenden Ruhephase hat mein Körper darauf reagiert: durch größere Nahrungsspeicher, Muskelabbau, Anlage von Fettreserven … Das Resultat siehst du hier." Zufrieden strich ich über meinen Bauch. "Auch eine Art der Überkompensation."

"Zieh deine Schuhe an", knurrte Arno, "und dann ab in den Wald mit dir."

Ich glaube, manchmal trauert er den Zeiten hinterher, als es noch Säbelzahntiger in Wilsdorf gab.

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