Udos Welt

Folge 12: Training

 

Früh am nächsten Morgen traf ich mich mit Arno im Oberstolzenbacher Wald. In den Bäumen hing noch der Nebel, es war unterirdisch kalt. Ich trug meine Tennislatschen, die ich im Keller unter einer Lage Staub ausgegraben hatte, außerdem Handschuhe, Mütze und Sonnenbrille und hoffte, dass mich so niemand erkannte. Aber wer trieb sich zu dieser Stunde schon im Freien herum?

Nun, ganz einfach: Jogger. Ich stieg gerade aus meinem Wagen, als mir der erste im Vorbeiflitzen auch schon zurief: "Morgen, Kollege! Schönes Wetter heute, was?" Er war um die Ecke, bevor ich reagieren konnte.

Dann kam Arno. Mit dem Fahrrad, einen großen Rucksack auf der Schulter. Dem Rucksack entnahm er drei Paar neue Laufschuhe, die ich nacheinander anprobieren musste. Für meine Tennistreter hatte er nur Verachtung übrig.

"An den Schuhen erkennst du den Läufer", dozierte er. "Und mit einer Bum-Bum-Boris-Schwuchtel zeige ich mich nicht in der Öffentlichkeit. Außerdem bekomme ich Provision. Los, lauf mal ein paar Meter."

Ich lief ein paar Meter. Bei drei Paar Schuhen machte das dreimal ein paar Meter. Danach war ich außer Atem und sehnte das Ende des Trainings herbei.

"Ich glaube, die hier sind's", schnaufte ich. "Fühlt sich gut an."

Vor allem fühlte es sich groß an. Mindestens zehn Zentimeter Komfortdämpfung machten einen Riesen aus mir. Das also war der Grund, warum einem Läufer immer so schlank vorkamen. Steck sie in Straßenschuhe, und sie sind bloß durchschnittliche Pummelchen.

"Dann mal los, Obelix." Arno drückte mir zwei Stöcke in die Hand, die er an seinem Rucksack festgeschnallt hatte.

 

"Nordic Walking?", fragte ich entsetzt.

"Was dachtest du denn? Wolltest wohl gleich losrennen wie bekloppt? Nee, nee, mein Lieber, am Ende machst du mir noch den ganzen Waldboden kaputt. Bevor ich dich von der Leine lasse, müssen erst einmal die Kilos runter."

"Aber wenn mich jemand sieht!"

"Wer soll dich schon in Sportklamotten erkennen?", meckerte Arno gutgelaunt. Prompt kamen zwei Jogger vorbei, die wie auf Kommando zur Seite schauten, als sie meine Walkingstöcke entdeckten.

"Sie verachten mich", klagte ich. "Das ist wie mit den Paria in Indien. Noch der lahmste Jogger spuckt auf Walker."

"Was sich sofort ändert, wenn du ihn mit Stöcken in der Hand überholst. Also los, Jammerlappen!" Er schnallte den Rucksack um und marschierte voraus.

Die folgende Viertelstunde war möglicherweise die furchtbarste, ganz bestimmt aber die längste Viertelstunde meines Lebens. Schon nach fünfzig Metern bekam ich Seitenstechen. Klarer Fall von Verkrampfung, meinte Arno. Die Nervosität vorm ersten Mal. Mit den Stöcken stach ich zuerst mir, dann ihm in den Fuß. Aus meiner Lunge drang irgendwann nur noch ein Pfeifen. Die Bandscheiben klapperten.

"Aufrecht!", schrie Arno. "Brust raus! Schön abrollen, die Füße! Atmung kontrollieren!"

Am Ende stolperte ich mit voller Absicht über eine Wurzel, nur um eine Verschnaufpause zu bekommen. Aber kaum saß ich auf dem Waldboden, als der nächste Jogger um die Ecke bog. Sofort stand ich wieder auf den Beinen und quälte mir ein seliges Lächeln ins Gesicht.

"Na, Arno!", grölte die Sportskanone. "Wieder ein Opfer gefunden?"

"Wir sehn uns beim Volkscross!", brüllte ihm Arno hinterher. "Gegen Udo hast du keine Chance!"

Und dann erzählte er mir, dass besagter Jogger vor Jahren ebenfalls das Lauf-ABC bei ihm gelernt habe. "Aber den", knurrte er, "haben wir nach zehn Minuten Walking wiederbeleben müssen. So viel zum Stichwort Paria."

"Wenn ich nicht gleich eine Cola bekomme, musst du mich auch wiederbeleben."

"Hier." Er reichte mir eine Trinkflasche. "Das ist besser als jede Cola."

Ich nahm einen langen Schluck. Verdammt, das Zeug schmeckte wirklich genial. "Was ist das?"

"Man nennt es Wasser", sagte er und schraubte die Flasche wieder zu. "Leitungswasser. Und es steht meines Wissens nicht mal auf der Dopingliste."

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