Udos Welt

Folge 8: Selbstversuch

Ein paar Tage nach dem Schümmericher Dorflauf hatte ich einen Alptraum. Ich stand an derselben Stelle wie damals, als ich Julia anfeuerte, und sah die Läufer an mir vorüberziehen. Aber dann sah ich mich, Udo Pönzgen. Von ganz unten kam ich angewalzt - gewalzt, klar, denn nicht mal im Traum konnte ich mir einen 105-Kilo-Koloss im Laufschritt vorstellen! Ich robbte mich also aus der Senke heran, wurde überholt, gedemütigt, ausgelacht. Ein Körper aus Blei. Es war entsetzlich! Der Beobachter oben, der ich ja auch war, schwitzte vor Scham. Mindestens so sehr wie Udo unten. Rechts und links machten sie sich schon lustig über den Dicken.

"Die Julia überrundet den doch zweimal!"

"Wenn's reicht!"

"Hoffentlich hat er ein rotes Dreieck am Arsch - als Schwerlasttransporter!"

Verdammt, Udo, nun streng dich an! Am liebsten wäre ich im Boden versunken. Im Schümmericher Asphalt. Der keuchende Typ dort schaffte es einfach nicht. Zu steil der Berg, zu rutschig der Untergrund, zu dünn die Luft. Und dann hörte ich mich, den Beobachter, mit Julias Stimme rufen: "Du wolltest doch den Wilsdorfer Volkscross mitmachen, Udo!"

An dieser Stelle wachte ich auf. Schweißgebadet, was denn sonst. Julia hatte recht: Ich wollte teilnehmen, das hatte ich ihr versprochen. Nein, versprochen nicht, aber angekündigt. In Aussicht gestellt.

Verdammt, ich musste trainieren! Jetzt, sofort!

Ich schlug die Decke zurück und sprang aus dem Bett. Drei Uhr mochte es sein. Stockfinster draußen. Aber mein Sprung bewies, dass ich kein Bleiklotz war, keine leblose Masse. Vielleicht steckte sogar ein Sportler in mir drin! Seitlich, unter einer Rippe vielleicht, dort türmte sich der Speck nicht ganz so hoch.

Drei Uhr nachts. Na und? Man kann sich die Stunde nicht aussuchen, in der man zum Athleten wird. Ich riss den Kleiderschrank auf und wühlte nach Sportklamotten: Trainingshose - ja, gab es -, ein T-Shirt, Hauptsache bunt, Socken, Schuhe. Schuhe?

Irgendwo musste noch ein Paar Tennistreter rumfliegen. Nicht, dass ich mal Tennis gespielt hätte, ich hatte bloß mal eine Art Freundin, die mich unbedingt … - egal, das spielt jetzt keine Rolle. Wo waren die dämlichen Sportschuhe? Verkrochen sich wohl aus Angst, ich könnte ihnen zu viel zumuten. Gut, dann halt nicht, es geht auch ohne euch Feiglinge. Barfuß laufen war sowieso der letzte Schrei. Von Nike soll es Schuhe geben, die so tun, als seien sie überhaupt nicht vorhanden. Hat mir Arno erzählt.

 

Also raus mit dir, Udo! Eine laue Frühlingsnacht. Nackte Sohlen auf dem Asphalt. Wie sich das anfühlt! Geil. Supergeil. Ich bin ein Naturtalent. Etwas auf der Stelle tänzeln. 105 Kilo, abwechselnd links und rechts. Na also, geht doch! Es macht sogar Spaß! Ich muss niesen. Klar, Läufer müssen immer niesen. Die Anstrengung, man schwitzt, Empfindlichkeit gegen Zugluft. So lau ist die Nacht auch wieder nicht.

Und jetzt: go! Aus dem Tänzeln heraus eine ganz natürliche Vorwärtsbewegung. Ich schwebe. Könnte zum Mond fliegen, singen, jubeln.

Stattdessen schreie ich. Ein Steinchen mitten auf dem Bürgersteig. Welcher Neandertaler von Nachbar hält hier nicht sauber? Lieber auf die Straße wechseln. Vorteil des Nachttrainings: kein störender Verkehr. Wieder das Schwebegefühl. Meine Füße, der kühle Asphalt - wunderbar. Schon zwei Laternen, drei … dann wird es irgendwie anders. Schwerer, genau. Ich höre ein Keuchen. Muss von mir kommen, bin ja der Einzige hier. Plötzlich ein leichter Schmerz im rechten Fuß, der mit jedem Schritt stärker wird. Da ist mir beim Fußball mal ein Landwirt aus Oberstolzenbach drauf getreten. Elfmeter und Bänderriss, ich weiß es noch genau. Soll meine Leichtathletik-Karriere so enden? Ich humpele. Setze mich auf den Bordstein, massiere den Fuß. Ein Bauer aus Oberstolzenbach, das muss man sich mal vorstellen! Es schmerzt höllisch.

"Kamma helfen?", fragt jemand hinter mir. Eingehüllt in eine Alkoholfahne, torkeln zwei Jungs auf mich zu.

"Nee", sage ich.

"Was gibben das, wenn's fertich is?", will der eine wissen, bevor er an einer Laterne Halt sucht.

"Training."

"Was fürn Ding?"

 

"Ich trainiere", blaffe ich die beiden Milchgesichter an und stehe auf, schmerzgeplagt. "Intervalle, versteht ihr? Hochleistungssport!"

"Ja, abba jetz?", meint der andere und glotzt auf meine Füße. "Und halb nackich?"

"Spezialtraining für den Wilsdorfer Volkscross. Vielleicht bieten wir auch einen Nachtlauf an."

"Nacktlauf? Cool!"

"Nachtlauf. Ab zwei Promille gibt es eine Sonderwertung. Solltet ihr euch merken." Humpelnd mache ich mich auf den Heimweg. Wie ich sie hasse, diese Nichtsportler!

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