Schlett EXTREM

Teil 13: Geistermann auf Autobahn

… prangte in dicken Lettern als Topstory in der Kronen Zeitung, dem österreichischen Pendant der deutschen Boulevardzeitung mit den vier größten Buchstaben. Gemeint war kein geringerer als der Autor selbst. Was war passiert? Wie wurde Stefan Schlett zum Geistermann und was hatte er zu Fuß auf der Autobahn verloren?

Austria Cross 1984. In 7 Tagen zu Fuß von Bregenz am Bodensee quer durch die Alpenrepublik nach Rust am Neusiedlersee. 749 Kilometer Asphalt über Alpenpässe mit endlosen Höhenmetern, oft auf Straßen mit hohem Verkehrsaufkommen und leider auch rücksichtslosen Fahrern, sowie schwierigen klimatischen Bedingungen.

Aber auch gigantische Landschaften, spannende Begegnungen und vor allem ein Abenteuer für Körper, Geist und Seele. Ein Kracher! Die größte Herausforderung, die sich ein Ultraläufer in Europa, damals vor 3 Jahrzehnten, antun konnte. Ein Aufbruch in zu diesem Zeitpunkt nahezu unbekannte läuferische Dimensionen. Geradezu eine Provokation für aufstrebende "Jungextremisten", zu denen ich mit meinen 22 Lenzen und 3 Jahren Extremsporterfahrung gehörte.

5 Starter beim Austria Cross reduzieren sich bald

Fünf Läufer fanden sich für den zum zweiten Mal von dem Österreicher Leo Halletz organisierten Wettbewerb ein. Drei Alpenpässe gleich am ersten Tag, Schnee, Regen, Schlafmangel und diverse Verletzungen forderten schon bald ihren Tribut. Nach nur zwei Tagen war ich der einzige, der übrig blieb! Ausgerechnet der jüngste und unerfahrenste im Starterfeld. Bei der Premiere vor einem Jahr kamen von vier Startern immerhin zwei ins Ziel. Die 3. Etappe hätte auch mir beinahe das Genick gebrochen. Wegen einer Schleimbeutelentzündung wurde nach der Hälfte der Strecke ein Arzt konsultiert. Dieser hatte kein Herz für Ultraläufer und wollte doch glatt mein Bein in Gips legen! Ehe er begriffen hatte was los war, stürmte ich aus der Praxis und war wieder auf der Piste.

Von den verwegenen Gestalten auf Österreichs Landstraßen verbleibt ein einziger Jungextremist ... allerdings nicht ganz ohne kleinere Probleme

Die 4. Etappe von Leogang nach Radstadt, mit nur 88 Kilometern die einzige unter hundert, hatte den Status eines "Ruhetages". Zwei Drittel der Etappe ist bereits in den Asphalt getreten, da passiert eine Panne. Als ich so im Ultraschlappschritt, geistig schon im Nirwana, über Österreichs Landstraßen schlurfe, finde ich mich plötzlich auf dem Seitenstreifen einer Autobahn wieder! In meinem benebelten Zustand denke ich mir nichts dabei und trotte weiter vor mich hin. Überraschenderweise verhalten sich die Autofahrer äußerst passiv, kein Gehupe oder Geplärre. Bis nach rund vier Kilometern das Betreuerfahrzeug auftaucht, mich einsammelt und zur Laufstrecke zurück bringt.

Kaum zu erkennen: Fuß oder nur noch Blase? "Fühle nichts - nur Schmerz" - für die Kronen Zeitung ein gefundenes Fressen Siegerehrung in Rust

Auf dem Beifahrersitz ein Reporter der Kronen Zeitung, der eine Story über den Austria Cross machen will. Und das war natürlich ein gefundenes Fressen! Ich muss wohl beim anschließenden Interview irgendeinen Blödsinn von mir gegeben haben, denn tags darauf erschien der Artikel mit dem herrlichen Titel: Geistermann auf Autobahn: "Fühle nichts - nur Schmerz". In meiner langjährigen Ausdauersportkarriere konnte ich viele kuriose Titel sammeln, aber der Geistermann blieb ein Unikum in meinem Extremistenportfolio.

Fotos © Stefan Schlett

Beitrag von Stefan Schlett

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Teil 12: Party in Beirut

Schon nach drei Kilometern machte sich der typische Schmerz an der Fußsohle bemerkbar. Bei Kilometer vier stand die Analyse: richtige Socken, richtige Einlage, falscher und dazu nicht eingelaufener Schuh. Panne beim Beirut Marathon! Kilometer 7 führte an meinem Hotel vorbei. Kurze Unterbrechung, rein in mein Zimmer, Fuß ausgepackt, kurz gereinigt, in meiner Verzweiflung ein Second Skin drauf geklebt und 10 Minuten später war ich wieder auf der Piste. Hoffnungslos! Bis zur Zielgeraden wurde es ein Gang nach Canossa, der mich für sämtliche Sünden des fast abgelaufenen Jahres büssen ließ. Im Umkleidezelt widmete ich mich dann in einer ruhigen Ecke dem Überraschungspaket: eine blutunterlaufene, aber noch intakte Monsterblase kam zum Vorschein. Was für ein Prachtstück! Wie in meinen besten Zeiten, als ich noch 1000-Meilen-Läufe und ähnlichen "Blödsinn" absolvierte.

Blom Bank Beirut Marathon 2012: May Faysal El Khalil, Gründerin und Präsidentin der Beirut Marathon Association, somit Chefin der größten Sportveranstaltung im Mittleren Osten, überzeugt sich selbst vom guten Gelingen

"Werkzeug" hatte ich keines dabei, also humpelte ich leicht angeschlagen ins Ärztezelt und musste die staunenden Sanitäter regelrecht dazu überreden, das Monstrum platt zu machen. Durch diesen Vorfall aufmerksam geworden erschien plötzlich May Faysal El Khalil, Gründerin und Präsidentin der Beirut Marathon Association, Chefin der größten Sportveranstaltung im Mittleren Osten. Die aparte Mittfünfzigerin, vierfache Mutter, einflussreiche Unternehmerin und Multimillionärin ist in der arabischen Machowelt eine Respektsperson.

Große Startfelder beim Minimarathon und auch bei den Erwachsenen trotz Regenwetter

Eine toughe Frau mit starker Ausstrahlung. Die Männer liegen der temperamentvollen Marathon-Diva und Trägerin der Laureus-Trophäe förmlich zu Füßen. Ich im übertragenen Sinne jetzt auch, aber auf der Krankenbahre. Sie entschuldigte sich für das Malheur. Ich winkte ab, sah die Blase als Souvenir und gratulierte ihr für die hervorragende Organisation.Sie lud mich spontan zur internen Abschlussfeier in eine der angesagtesten Discotheken von Beirut ein und stellte mir dafür Fahrzeug und Chauffeur zur Verfügung. Gesagt, getan. Nachdem der Chefarzt Jihad Haddad sein blutiges Handwerk vollendet hatte, fuhr ein eleganter Porsche vor und brachte mich ins Hotel.

Ob Europa oder Mittlerer Osten: Das Siegertreppchen ist fest in afrikanischen Händen

Abends ging's dann mit einem robusten Allrad-Mercedes durch den chaotischen Beiruter Straßenverkehr in eine sündhaft teure Top-Diskothek am Stadtrand. Der Fahrer erzählte mir noch, dass in Madame Mays Fuhrpark neben Porsche und Mercedes auch Audi, Bentley und Cadillac vertreten sind. Beirut ist bekannt für sein reges Nachtleben. Das Feiern liegt den Libanesen im Blut und ist ihnen auch nach Jahrzehnten blutiger Konflikte nicht abhanden gekommen. Zusammen mit den Ehrengästen Tegla Loroupe und Edwin Moses durfte ich dann eine rauschende Disconacht feiern. So wurde aus einer Sch… Blase ein Megaerlebnis!

May Faysal El Khalil, Chefin des Beirut Marathons, und Stefan Schlett bei der Pressekonferenz Partytime nach dem Beirut Marathon (von links nach rechts): libanesischer Journalist, Tegla Loroupe, Stefan Schlett, Edwin Moses & ein koreanischer Journalist Promi Edwin Moses war nicht allein auf der Party in Beirut

Ein Jahr später traf ich im Beiruter Marathonziel wieder auf Jihad Haddad, der als Medical- und Doping-Coordinator im Einsatz war. Stolz erzählte er, dass aufgrund meines Vorfalls dieses Jahr erstmals eine Podiatrische Abteilung für Fußkranke im großen Ärztezelt am Ziel installiert wurde…

Fotos © Stefan Schlett und Veranstalter

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Teil 11: Splitterfasernackt

Prüderie und Puritanismus sind auch im 3. Jahrtausend omnipräsent. Bei den Arabern sowieso, denn die leben ja nach ihrer Zeitrechnung (der Islamische Kalender zählt das Jahr 1435) noch im Mittelalter. Aber auch in den eigentlich aufgeklärten Ländern der westlichen Welt herrschen nicht selten noch mittelalterliche Zustände. Vor allem beim Umgang mit der natürlichen (nicht provozierten) Nacktheit fehlt es da oftmals völlig am Gesunden Menschenverstand. Während ich in Frankreich und England wegen "Nudismus" aus der Sauna verwiesen werde, geschieht mir das gleiche in Deutschland, wenn ich mit Badehose im Schwitzraum erscheine - alleine schon aus hygienischen Gründen völlig logisch!

Trans-Amerika-Lauf 1992. Die USA - Kernland der westlichen Prüderie, der Heuchelei und des Konservatismus. Für freiheitsliebende Ausdauersportler Paradies und Feindesland zugleich! Großartige Landschaften, aber eine stockprüde Gesellschaft! Was hab ich da nicht schon alles erlebt. Läufer wurden von der Polizei festgenommen, weil sie ihr Training bei 35°C mit freiem Oberkörper praktizierten! Das gleiche wäre mir eines Tages beinahe am Strand passiert, als ich mich nach absolviertem Schwimmtraining einfach nur Umziehen wollte. Beim Trans-Amerika-Lauf musste der Renndirektor mehrmals intervenieren, weil Teilnehmer beim "Wildpinkeln" auf einsamen Nebenstraßen zufällig von übereifrigen Cops erwischt wurden.

 

Und selbst in unserer kleinen, verschworenen Gemeinschaft von Ultraläufern (28 Teilnehmer und eine handvoll Helfer), die im alltäglichen Etappenziel Zuflucht in mal mehr oder weniger großen Turnhallen als Nachtquartier fanden, vollzog sich der Kleiderwechsel mit akrobatischen Verrenkungen im Schutze des Schlafsacks. Dagegen standen die Deutschen, Österreicher und Schweizer jeden Morgen nackt auf ihren Matratzen, um das tägliche Ganzkörper-Ritual des Cremens, Ölens und Schmierens zu vollführen, was nun mal nötig ist bei einer Tageslaufleistung von 70 - 80 km und Temperaturen von 30 - 40°C. Da die Duschmöglichkeiten meist sehr begrenzt waren, warteten die wenigen weiblichen Begleiter so lange, bis ja kein Mann mehr in den Umkleidekabinen war. Heiliger Strohsack - der Herrgott muss sich doch etwas dabei gedacht haben, als er uns völlig nackt in diese Welt geworfen hat!

Den prüden Amis geben wir's, dachten ich und mein Betreuer Oliver, ein angehender Arzt, der täglich ein Drittel der Strecke mitlief. Unsere Stunde wird noch kommen! Und sie kam, bei Kilometer 2438 auf einer einsamen, gottverlassenen Landstraße in Kansas. Blauer Himmel, 32°C, kein Mensch, kein Vieh, kein Bulle weit und breit. Also, raus aus den Klamotten! Und dann liefen wir eine geschlagene halbe Stunde lang an der Verhüllungsfront durch "Feindesland" - SPLITTERFASERNACKT! Zwei laufende Sünder in "Gottes eigenem Land", dem Land mit den meisten und heftigsten Sexskandalen weltweit…

Fotos © Michael Hansmann

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Teil 10: Badetag

Wir alle wissen um die erhöhte Infektgefahr von Läufern, speziell im Winter. Um Erkältung, Fieber & Co. vorzubeugen fröne ich seit Jahrzehnten dem Eisbaden, um das Immunsystem zu stärken. Doch der ca. 2 km entfernte Baggersee in dem ich zu diesem Zweck normalerweise ein Loch ins Eis hacke, friert durch die meist milden Winter, die eher einem verlängerten Herbst ähneln, nur noch selten zu. Seit einigen Jahren gehe ich deshalb regelmäßig in den Main, der nur 200 Meter vor meiner Haustüre träge dahin fließt. Abhärtungseffekt und Spaß sind dabei auf einem ähnlichen Level. Schnell wurde die lokale Presse auf den seltsamen Schwimmer aufmerksam. Neben einem Auftritt im Lokalfernsehen ließ sich das Main Echo, immerhin größte Tageszeitung am bayerischen Untermain, zu einem köstlichen Essay hinreißen, das ich dem amüsierten LaufReport Leser nicht vorenthalten möchte. Titel: "Ein Mann geht schwimmen - ein Glückspilz, wer es nicht weit zu seiner Badestelle hat".

Höhe Sonnenstudio könnte man ja noch glauben .... ... aber nein, er schreitet weiter durch den Ort ...

Main Echo vom 17./18.02.2007, von Manfred Fendrich:

Bommelmütze und Bademantel, Sportschuhe und ein Handtuch, das sich als Schal verwenden lässt: Der Mann hat alles auf dem Leib, was er für seinen Sport benötigt. Er verlässt am Samstagmorgen seine Wohnung gegenüber dem alten Kleinostheimer Rathaus, steckt die Nase in den Wind und genießt. "Schnee", strahlt er das bisschen Weiß in einer Hofecke an. Mit großen Schritten überquert er an der Fußgängerampel die stark befahrene Hauptstraße und setzt seinen Weg, die Hände tief in den Taschen des Bademantels vergraben, durch die Lindengasse fort. Sein Ziel: der nahe Main.

.... quert wie vorgeschrieben an der Ampel die Hauptstraße ... ... walkt unaufhaltsam zum Main

Der Mann geht schwimmen. Es ist Februar. Kalt. Die Frau, die am Ufer ihren Hund ausführt, scheint vom Anblick im Bademantel nicht sonderlich überrascht zu sein. Guck, der verrückte Schlett geht mal wieder baden, mag sie sich denken, wie die Nachbarn oben im Dorf, wenn er ihnen in seinem Aufzug über den Weg läuft. Was, würde er auf Fragen antworten, soll denn ein Mann, der schwimmen geht, besseres tragen als einen Bademantel?

Ja, im Februar ist es auch immer Wasser kalt ... ... aber wenn man einen Ruf zu verlieren hat ...

Doch sie fragen nicht. Nicht Stefan Schlett, ihren Extremsportler, der Kontinente und Wüsten durchquert hat, mit dem Fallschirm auf dem Nordpol gelandet ist und nun eben im Februar im Bademantel durchs Dorf stolziert. Er hat den Mantel abgeworfen. Das graue Wasser nimmt den blassen Körper auf. Mit energischen Zügen dreht er seine Runden in der Nähe des Ufers. "Ah", genießt er, "heute mit Wellengang", als sich ein Frachter von der Schleuse her nähert, und dreht noch eine Runde extra. Früher ist er jeden Winter mit dem Pickel zum Mainparksee gepilgert und hat ein Loch hinein gehauen, um das kalte Wasser zu genießen. Heute, sagt er, gibt es kein Eis mehr, umso näher sei ihm der Main.

SchlettEXTREM - wie kalt das Wasser war, bleibt dem Betrachter verborgen ... ... Daumen hoch und ab !

Der Mann krabbelt aus dem Wasser, reibt sich trocken, greift nach Schuhen, Bademantel und Bommelmütze und macht sich auf den Heimweg: "Und jetzt in die heiße Wanne!" Schließlich ist der Samstag in Kleinostheim Badetag.

Fotos © Petra Reith

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Teil 9: Wendegeschichte eine Wessis

Mauerfall in Hawaii

Von August bis Dezember 1989 war ich in Amerika unterwegs, um als Extremsportler und "freiberuflicher Abenteurer" eine Liste von außergewöhnlichen Projekten abzuarbeiten. Auf meiner Agenda standen Triathlons in Chicago und Rhode Island, der Double Ironman in Huntsville/Alabama (7,6 km Schwimmen/360 km Rad/84,4 km Lauf), Fallschirmspringen in Florida, der Sri Chinmoy 1300-Meilen-Lauf in New York und nicht zuletzt ausgedehnte Reisen im Osten der USA. Das Finale sollte der Ultraman in Hawaii bilden, ein 3-tägiger Extremtriathlon (10 km Ozeanschwimmen/420 km Rad/84,4 km Lauf) in dessen Verlauf die Insel Big Island komplett umrundet wird.

Während sich in Deutschland dramatische politische Ereignisse entwickelten, ging es auf Hawaii etwas entspannter zu… …aber hoch oben in der Lavawüste gab es auch in Hawaii explosive Ereignisse (Vulkanausbruch am Kilauea-Krater) Laufstrecke in der Lavawüste beim Ultraman auf Hawaii

Als ich in Miami Anfang September zufällig in einer Tageszeitung Berichte über Massenflucht von ostdeutschen Bürgern in die BRD lass, konnte ich damit beim besten Willen nichts anfangen. Von der Vorgeschichte und auch der angespannten politischen Lage in der DDR seit den Wahlfälschungen im Mai hatte ich nichts mitbekommen. Aufgrund meiner Aktivitäten blieben mir auch in den folgenden Wochen die internationalen Nachrichten verborgen.

Zieleinlauf beim Ultraman 1989 auf Hawaii
(Gesamtzeit > 31:36 Stunden)
Die 3 deutschen Teilnehmer beim Sri Chinmoy Ultra Distance Trio 1989, v. l. n. r.: Stefan Schlett, Christel Vollmerhausen, Michael Purwins Zieleinlauf beim Double Iron Triathlon 1989 in Alabama nach 31:28 Stunden

Erst als ich im November auf Hawaii eintraf und bei einer befreundeten Familie Unterschlupf fand hatte ich wieder regelmäßigen Zugang zu den Tagesnachrichten und erfuhr, welch revolutionäre Ereignisse sich in deutschen Landen abspielten. So erlebte ich (mit 11 Stunden Zeitunterschied) den Mauerfall am 9. November 1989 in Hawaii vor dem Fernseher!

Die 3 deutschen Finisher beim Double Iron Triathlon 1989 in Alabama Der Autor auf dem Schlachtfeld des 1300 Meilen Laufes in New York Die historischen ersten 3 Finisher in der Geschichte dieses Rennens, beim 1300 Meilen Lauf 1989; v. l. n. r.: Stefan Schlett/GER - 17 Tage + 23:42:13 Std.; Alistair Howie/GBR - 17 Tage + 8:25:34 Std.; Ian Javes/AUS - 17 Tage + 22:01:58 Std.)

Mitte Dezember kam ich zurück in ein neues, verändertes Deutschland. Intuitiv zog es mich dann gleich zum Jahresende nach Berlin - DEM Symbol der Teilung Deutschlands. Steineklopfen an der verhassten Mauer, Teilnahmen am Berliner Silvesterlauf über den Teufelsberg, der größten Silvesterparty Deutschlands am Brandenburger Tor und dem ersten Gesamtberliner Neujahrslauf durch das Brandenburger Tor waren sehr emotionelle Ereignisse. Mit einer Nonstopfahrt per Rennrad vom 3.-5.10.90 von Aachen nach Görlitz, der längsten West-Ost-Ausdehnung Deutschlands (750 km in 50 Stunden) zelebrierte ich dann die Wiedervereinigung Deutschlands und das glücklicherweise friedliche Ende von 40 Jahren sozialistischem Schwachsinn.

Intuitiv zog es mich dann gleich nach Berlin und mit einer Nonstopfahrt per Rennrad vom 3.-5.10.90 von Aachen nach Görlitz, der längsten West-Ost-Ausdehnung Deutschlands (750 km in 50 Stunden) zelebrierte ich die Wiedervereinigung Deutschlands

Der Reigen schloss sich nach 20 Jahren, als ich im Sommer 2009 anlässlich der faszinierenden Open Air Ausstellung am Alexanderplatz in Berlin zum 20-jährigen Jubiläum des Mauerfalls die gesamte Geschichte der friedlichen Revolution und Wiedervereinigung Deutschlands nachlesen konnte. Dreieinhalb Stunden Studium vor den Schautafeln ergaben dann einen Marathon der besonderen Art, durch Raum, Zeit und Geschichte. Irgendwann passiert das, was bei uns möglich war, auch in Korea und Zypern. Aber ob das meine Generation noch erleben darf? Vielleicht sollte ich in nächster Zeit doch mal wieder zu einer viermonatigen Extremreise aufbrechen…

Beitrag von Stefan Schlett

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Teil 8: Geburtstagsfeten

Jedes Jahr die gleichen Rituale: aufwendige Geburtstagsfeiern, Fressorgien, Geschenkexzesse, Dutzende Glückwunschmails, -telefonate, -SMS und - das Grausamste von allem - dieses Happy Birthday Gejaule. Für viele der wichtigste Tag des Jahres, für manche gesellschaftliche Zwänge, denen sie sich nicht entziehen können. Ich hasse es! Schließlich wird man an diesem Tag ein Jahr älter und ist gleichzeitig dem Sensenmann schon wieder ein Jahr näher gekommen.

Doch für Ausdauer- und Extremsportler gibt es Fluchtwege: Ein Wettkampf fern der Heimat und der Tag ist gerettet. Einmal saß ich im Flieger zum Las Vegas Marathon, ein andermal befand ich mich mitten in der australischen Nullarborwüste, beim "Race of Fire" von Perth nach Canberra. Es war mein 39. Geburtstag und noch exakt 39 Tage zu laufen. Zufall der Zahlen - oder doch Bestimmung?

Geburtstagsessen beim Race of Fire Stille Geburtstagsstunde Geburtstagslocation: Die Nullarborwüste

Noch exotischer war die Ankunft in Wadi Halfa im Sudan, nach 40-stündiger Odyssee mit einer alten verrosteten Schaluppe über den Nasserstausee in Ägypten, während einem 4-monatigen Mountainbikerennen von Kairo nach Kapstadt. Doch die schönste Geburtstagsfete gelang mir 1999 beim Tough Guy in England, der Mutter aller Schlamm- und Hindernisrennen. Lange vor den deutschen "Strongmans" und "Braveheartbattles" durfte ich als Protagonist einer PRO-7 Reportage zum dritten Mal an diesem Kultevent teilnehmen.

Was gibt es Schöneres, als sich an seinem Geburtstag in Schlammlöchern zu wälzen, durch eiskalte Wassergräben zu tauchen und über schwindelerregende Hindernisse zu hangeln? Eine archaische Orgie der Sinne! Dazu auch noch vorneweg - die meisten der damals rund 3000 "harten Jungs" hatte ich hinter mir. Zwar nicht als Sieger, aber als schnellster Ausländer landete ich tatsächlich noch auf dem Podest. Da ließ es sich nicht mehr verheimlichen, dass heute mein Ehrentag ist. Und schon johlte die ganze Meute los: Happy Birthday dear Stefan… - die Höchststrafe!

Geburtstag bei der Tour d'Afrique im Sudan Geburtstagsmarathon nach exakt 42 Jahren + 195 Tagen Extremistengeburtstag im Schlamm (Tough Guy)

Der einzige Geburtstag den ich gerne publik mache und der auch nur einmal im Leben stattfindet, ist der Marathongeburtstag: 42 Jahre + 195 Tage. Selbstredend, dass an diesem Tag ein Marathon gelaufen wird - aber das ist eine andere Geschichte…

Beitrag von Stefan Schlett

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Teil 7: Eisige Gelüste

Acht schmerzverzerrte Gesichter tauchten aus den eisigen Fluten auf, japsten nach Luft und kraulten panikartig gegen die starke Meeresströmung in der antarktischen Paradise Bay an, um die rettende Gangway des Schiffes zu erreichen. Das Eisbadefestival war der finale Höhepunkt zur Siegerehrung des 2. Antarktis Marathons im Februar 1997, damals das südlichste Rennen der Welt. Wie kam es, dass 8 unbescholtene Marathonläufer spontan zu einem Kaltwasser-Crashkurs antraten, dazu noch in der Antarktis, bei Wassertemperaturen von +1°C?

Galaktische Landschaften und meditative Orgasmen rund um die Antarktische Halbinsel Ein Zodiac mit Laufexpeditionären verlässt das Mutterschiff zum Landgang Die argentinische Forschungsstation Camara in der Antarktis

Einschiffung auf der Akademik Sergey Vavilov vor einer Woche im argentinischen Ushuaia. Das frühere Forschungsschiff mit Heimathafen in Kaliningrad, dem ehemaligen Königsberg, einst im Auftrag der Akademie der Wissenschaften in Moskau gebaut, wurde nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion für Expeditionskreuzfahrten umgerüstet. Meine erste Entdeckung galt der Bordsauna und dem dazu gehörigen Außenbecken zur Abkühlung, dass täglich mit Seewasser gefüllt wurde. Herrlich! Als Bade- und Kaltwasserenthusiast war ich in meinem Element und dazu noch auf einer ganz besonderen Mission unterwegs: Nach erfolgreich absolviertem Marathon auf der Insel King George Island in der Antarktis sollte ich der 6. Mensch, erste Nichtamerikaner und erste Deutsche sein, der auf allen 7 Kontinenten einen Marathon gelaufen ist. Doch das war mir nicht genug - ich wollte ins Eiswasser!

Schlett und die Antarktis - eine homogene Verbindung. (... aber immer in den warmen Klamotten?) Der Autor verschafft sich auf seine Weise den täglichen Kick So ein Vollbad erfrischt, sogar so sehr, dass man besser mit einem Handtuch die nackten Folgen verdeckt

Für die täglichen Landgänge wurde eine Leiter an der Bordwand abgelassen, über die man dann in Zodiacs umstieg. Das war meine Chance! Überraschend schnell konnte ich den russischen Kapitän von meiner Eisbadeleidenschaft überzeugen. Einzige Voraussetzung: ein Zodiac musste als Sicherheit im Wasser verbleiben. Man stelle sich einen westlichen Offizier vor - hoffnungslos! Sicherheitsbedenken, Vorschriften, Haftung und sonstiges Brimborium. Aber die 53-köpfige russische Besatzung war da komplett schmerzfrei. So wurde es dann zu einem täglichen Ritual: Rückkehr von der Landexkursion, Klamotten aus, Badehose an, Sprung aus acht Metern Höhe vom Schiffsgeländer ins antarktische Eismeer, schwimmend gegen oft starke Strömung zurück zum Schiff. Eine Blitzaktion, bevor das letzte Zodiac aus dem Wasser gehievt und die Gangway wieder eingeholt wurde. DAS Highlight in meiner 15-jährigen Eisbadekarriere!


"Was ist da vorne los?" - "Das kenne ich, da ist ein Marathon." - "Hhhmm, da mache ich mit!"
Und tatsächlich: Kollege Pinguin erreichte das Ziel des 2. Antarktis Marathons nach 4:30:34 Stunden "Nicht gewonnen, aber vom Applaudieren ganz heiße Füße bekommen." - "Da, schau, die Boatpeople. Wir laufen schlecht, aber die können dafür nicht richtig schwimmen."

Zur Siegerehrung zwei Tage nach dem Marathon sollte dann auch zum offiziellen Zeremoniell ein Demonstrationssprung vom "Verrückten Deutschen" gehören. Ein herrlicher Tag, blauer Himmel, Sonnenschein, wenige Grade über Null. Was für eine Überraschung, als sich spontan sieben Männer und eine Frau aus ihrer Kleidung schälten und Aufstellung nahmen! Als "Bademeister" gab ich das Kommando und unter dem Gejohle von über 200 Zuschauern gab es ein kollektives Eisbad der Extraklasse. Die Badesaison in der Antarktis war hiermit eröffnet.

Wieder so ein leichtsinniger Flugversuch mitten in die Eiswürfel
"Schnell raus, da kommt ein Eisbär." - "Quatsch , die sind doch allergisch gegen Pinguine." Kollektivbaden in der Antarktis ist eine feine Sache, aber bei nur einem Handtuch gibt es die Reeling hinauf ein Gerangel wie beim Stadtmarathonstart Die sind ja extrem, die ziehen vorm Schwimmen das Fell aus

Beitrag von Stefan Schlett

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Teil 6: Lauf & Fress & Sauf

Ich schiebe mir die letzte Wurst in den Mund, spüle mit einem Glas Bier nach und nehme die Verfolgung auf. Der Jupp der Saukrüppel, wie man bei uns in Bayern zu pflegen sagt, hat mir doch tatsächlich auf dem letzten Kilometer die Führung abgenommen. Und das trotz meiner ausgefeilten "Sauf- und Fressstrategie". Nein, wir befinden uns hier nicht bei einem bayerischen Kampftrinker Event. Auch ein Wettfressen fürs Guinness Buch der Rekorde liegt uns fern. Das hier ist der "Kleinostheimer Lauf & Fress & Sauf". Spaßveranstaltungen dieser Art gibt es schon seit Jahrzehnten quer durch die Republik. Sie nennen sich Run & Drink, Bierathlon, Lauf und Sauf etc. Der Klaus, ein ortsbekannter Haudegen, seines Zeichens Ultraläufer und Triathlet meinte eines Tages als er mal wieder zu tief ins Weizenbierglas gekuckt hatte "das lässt sich doch noch steigern"!

Seitdem organisierte er mit seiner Frau Hannelore jedes Jahr den Lauf & Fress & Sauf, und rund 2 Dutzend lokale Ausdauerkämpfer nahmen sich dieser kuriosen Herausforderung an: 5 ½ km laufen und dabei jeden Kilometer eine Wurst und einen halben Liter Bier vertilgen - wahrlich ein harter Test für jeden ausdauergestählten Saumagen! Es versteht sich, dass ein solch spezieller "Triathlon" nicht mehr als regionalen Charakter hat, aber dann wurde er doch deutschlandweit bekannt.

 

Denn zum gleichen Zeitpunkt wurde von Spiegel TV die Reportage "Skurrilsport" produziert. Diese nahm meinen Themenvorschlag dankbar an. Anstatt dem Schlett um die ganze Welt nachzureisen, konnten sie somit kostengünstig vor Ort produzieren. So kam es, dass ein 3-köpfiges Kamerateam aus Hamburg ins beschauliche unterfränkische Kleinostheim einfiel und den Lauf & Fress & Sauf auf Celluloid bannte. Somit konnte das ganze Land meine "Niederlage" verfolgen.

Der Jupp, als Feuerwehrkommandant in diversen Löschtechniken bestens versiert, war nicht mehr einzuholen. Wie auch? Denn Wurst und Bier standen bei mir schon auf Oberlippe-Unterkante - da war kein Zielsprint mehr möglich.

Aber immerhin behielt ich - Regelkonform - die gesamte Zwangsverpflegung im Magen. Leicht angeheitert war mir allerdings klar, dass jetzt erst mal eine Entgiftungskur vonnöten ist. Die kommenden 4 Wochen übte ich mich dann auch in Vegetarismus und Antialkoholismus…

 

Beitrag von Stefan Schlett

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Teil 5: Nicht zu laufen war nicht auszuhalten!

Am Abend des 14. Tages meldete ich mich zusammen mit Karlheinz vom "Race of Fire" beim Renndirektor ab. Wir hatten die Nase voll vom Trans-Australia-Footrace! Die ersten beiden Wochen waren ein Horrortrip im Backofen, mit Durchschnittstemperaturen von 35 - 40°C - der Titel dieses ersten und bisher einzigen Rennens durch den australischen Kontinent war Programm. Perth - Adelaide - Melbourne - Canberra, 4355 km, 4 Staaten, 3 Zeitzonen, 63 Tagesetappen durch ein Land, das zu 80% menschenleer ist und zur Hälfte aus Wüste besteht, dazu noch im Hochsommer. Ein knallharter Job, 7 Tage die Woche, mit 8 bis 10 Stunden täglicher Schwerarbeit auf der Straße, 2 Monate lang, ohne Ruhetag.

Der Eyre Highway # 1 - 1248 km Wildnis durch die Halbwüste der Nullarbor Plains in 16 Tagesetappen. Quasi ein Deutschlandlauf ohne Siedlung und Ortschaften!
Leichen auf dem Highway: Hunderte von Känguru-Kadavern säumten die Laufstrecke
Ein Road Train und ein Ultraläufer - zwei bärenstarke Maschinen

Aber es waren nicht die Strapazen, die uns zu schaffen machten. Auch nicht die riesigen Road Trains die uns fast von der Straße bliesen und Hunderte von überfahrenen Kängurus hinterließen, die in allen Stadien der Verwesung dahin rotteten. Weder Buschfeuer, das uns den Atem nahm, noch das Ozonloch, das uns den Pelz verbrannte. Oder die 10 bis 15 Liter warmer Pissbrühe, die wir täglich runterkippten um nicht zu verdursten, und Millionen Buschfliegen, die in alle Körperöffnungen krochen. Nein, wir hatten einfach die Schnauze voll von der desolaten Organisation, die dabei war, zwei Dutzend Weltklasseläufer zu verheizen, die zu der Australiendurchquerung angetreten waren. Kein frisches Trinkwasser, falsche Distanzangaben, kein Rennarzt - im Notfall hätte der Flying Doctor Service einen halben Tag benötigt um an die Strecke zu kommen -, Unterkünfte die bestenfalls als Schweineställe zu bezeichnen waren, stümperhafte und miserable Administration. Chaosmanagement war die dominierende Organisationsform!

Die Straßenkrieger auf dem Schlachtfeld
2 1/2 Tagesetappen für die längste gerade Straße Australiens. v.l.: Karlheinz Kobus, Markus Müller, Peter Pfister (Betreuer), Stefan Schlett, Helmut Schieke Stefan und Karlheinz sind nach ihrem Survival Run wieder im Rennen

Da waren wir nun, im Balladonia Roadhouse, mitten in den Nullarbor Plains, einer Halbwüste im Süden des Kontinents. Die letzte Ortschaft lag 191 km hinter und die nächste 1.057 km vor uns. Morgens um 4 Uhr begleiteten wir die 14 noch übrig gebliebenen Läufer zum Start, verabschiedeten unsere Freunde und legten uns noch mal aufs Ohr. Aber wir konnten kein Auge zu machen, eine seltsame Unruhe erfasste uns. Keine Vorfreude darauf, dass der Stress nun vorbei war, auf Urlaub, Palmen, Sonne, Surf und Strand. Das hatte plötzlich keine Bedeutung mehr. Wie gehetzte Tiere schlichen wir durch das Gelände der Raststätte. Da sahen wir durch Zufall, dass die beiden Renndirektoren noch anwesend waren. Das Schicksal wollte, dass wir weiterlaufen! Wir flehten die beiden an, wieder ins Rennen einsteigen zu dürfen. Nicht mehr zu laufen war nicht auszuhalten!

Stefan Schlett auf den Rolling Hills der Great Dividing Range
Champus für den Autor, nach 517 Stunden, 36 Minuten und 37 Sekunden Straßenkampf, als Dreizehnter im Ziel in Canberra Die Laufstrecke: 4355 km in 63 Tagesetappen von Perth nach Canberra

Sie lenkten ein. Der Deal war, dass wir innerhalb des Zeitlimits das Ziel erreichen mussten. Die Etappe lief seit 4:20 Stunden, das hieß uns blieben noch 10:20 Stunden für 81 Kilometer. Die vergangenen Tage schafften wir aber gerade mal einen Schnitt von 7 km/h. Wir liefen um unser Leben! Dermaßen unwürdig aus dem größten sportlichen Abenteuer unseres Lebens auszuscheiden, hätte uns bis ans Ende unserer Tage belastet! Acht Minuten vor Schluss war das Ziel erreicht - Halleluja, der Ultragott hatte Mitleid mit uns! Von nun an besannen wir uns auf das Wesentliche, nämlich zu Fuß von Perth nach Canberra zu laufen. Was scherte uns die erbärmliche Organisation. Körper und Geist können sich an ALLES gewöhnen - wie im Krieg eben. Wir waren kuriert!

Beitrag von Stefan Schlett

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Teil 4: Das große Beben

Um 4:58 Uhr bebte die Erde im San Bernardino County (Kalifornien). Mit 7.4 auf der Richterskala das stärkste Erdbeben seit 40 Jahren, 170 Verletzte und ein Toter waren zu beklagen, die Schockwellen bis Denver in Colorado zu spüren. Aber das erfuhr ich erst Tage später aus der Zeitung. Es ist der 28. Juni 1992, ein Sonntag. 17 Männer stehen am südlichen Stadtrand von Las Vegas. Sie erwartet ein langer und heißer Arbeitstag mit vielen Überstunden auf dem Highway. Um Punkt 5 Uhr soll die 9. Etappe des "Runner's World Trans-America-Footrace" von Los Angeles nach New York gestartet werden. Mit 89 Kilometern ist es der bisher längste Tagesabschnitt in diesem historischen Rennen - dem ersten Transkontinentallauf seit 63 Jahren.

Startaufstellung am Strand von Huntington Beach Einsame Highways durch die monumentalen Landschaften des Westens

Vergangene Nacht waren wir Gäste von Al Boka, Renndirektor des Las Vegas Marathon und Besitzer des Vacation Village, einem Hotel und Casino. Helmut kommt gerade aus der Lobby und erzählt wild gestikulierend, dass der Tresen gewackelt hat! Wir glauben ihm kein Wort. Wahrscheinlich ist er noch im Delirium. Kein Wunder, die vergangenen Tage durch die knochentrockene und siedendheiße Mojave-Wüste waren sauhart - da hat jeder gelitten.

Der Autor in der Mojave-Wüste (links) und auf dem höchsten Punkt der Laufstrecke (rechts)

Die Etappe startet pünktlich, es geht zuerst 20 km auf dem Las Vegas Boulevard quer über den Strip, dem berühmten Prachtboulevard mit den größten und spektakulärsten Casinos der Spielerstadt. Aber was ist da los? Tausende von Leuten stehen auf der Straße - und das am Sonntagmorgen um 5:30 Uhr! Die sind doch wohl nicht wegen uns gekommen, dem Haufen ausgemergelter Gestalten, von der Wüste gezeichnet und abgemagert? Vereinzelt wird geklatscht, einige Passanten feuern uns an. Zwar haben einige Zeitungen und TV-Sender auch überregional vom Trans-Amerika-Lauf berichtet, aber bisher wurde der kleine Tross von ursprünglich 28 Startern und einer handvoll Helfern kaum wahrgenommen. Egal, wir genießen es!

Empfang in Barstow/Kalifornien am 4. Tag Sektdusche beim Zieleinlauf am Columbus Circle in New York

Menschenmassen, der Strip, MGM, Excalibur und Caesars Palace, Megacasinos und Luxushotels, Glanz und Glitter. Die Orgie aus Neonlichtern lässt uns fast schwindelig werden. Eine bizarre, surreale Kulisse! So viel Aufmerksamkeit sollten wir auf der gesamten 4800 km langen Strecke nicht mehr bekommen! Nach 20 Kilometern war der Nordrand von Las Vegas erreicht und der gnadenlose Backofen der Nevada-Wüste nahm uns wieder in Empfang.

Erst Monate später, als das Rennen schon längst Geschichte war, bekam ich zufällig ein paar Zeitungsartikel in die Hand, die das Ereignis aufklärten. Darin war zu lesen, dass an besagtem Morgen sämtliche Hotels und Casinos wegen dem Erdbeben aus Sicherheitsgründen evakuiert wurden.

Beitrag von Stefan Schlett

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Schlett EXTREM

Teil 3: Extremistengeburtstag

Mitten in der Nacht - kurz nach der Geisterstunde - wurde ich vom Rad geholt. Eine Mariachi-Band spielte auf, Hände mussten geschüttelt und Glückwünsche zum Geburtstag entgegengenommen werden. Aber mein Ehrentag war doch erst in 2½ Monaten! Dazu befand ich mich gerade bei Kilometer 1152 des Decatriathlons in der Millionenmetropole Monterrey im Nordosten Mexikos. Und hatte noch 1108 Kilometer Schwerstarbeit vor mir. Was war passiert?

20-köpfige "Reisegruppe" bei der Pressekonferenz

Die Weltpremiere des Zehnfach-Ironmans (38 km Schwimmen, 1800 km Radfahren, 422 km Laufen) war mein Auftakt zu einer fünfmonatigen "Extremistenreise" durch Mexiko und den Westen der USA, in deren Verlauf nicht nur der längste Triathlon der Welt, sondern auch ein 6-Tage-Rennen in Sacramento, ein 50 km-Lauf durch Eis und Schnee in Cedar Rapids, ein zweiwöchiger Etappenlauf durch Mexiko, Guatemala, Honduras bewältigt und ein halbes Dutzend Vulkane bestiegen werden sollten.

Von adidas, mit denen ich damals eng zusammen arbeitete, erwartete ich noch während des Triathlons eine wichtige Nachricht. Also sendete Rainer Weiskirchen vom PR-Team in Herzogenaurach ein Fax an die Organisation. In Kenntnis meiner langen Abwesenheit hängte er zum Schluss des Textes noch die besten Wünsche für Weihnachten, Neujahr und Geburtstag an - alles Ereignisse, die in diese Zeit fielen.

Törtchen für die halbe Wasserleiche - so lange Appetit vorhanden ist ...

Als der Renndirektor Jorge Luis Andonie, durch dessen Hände das Fax ging, zufällig die Schlussbemerkung "...beste Glückwünsche zum Geburtstag" las, war seine logische Schlussfolgerung, dass dieser am folgenden Tag stattfinden würde. Das musste natürlich zelebriert werden - für ihn und das gesamte Organisationsteam eine Ehrensache. Also, wurden heimlich die Vorbereitungen getroffen - das Ganze sollte ja eine Überraschung sein. Als ich dann kurz nach Mitternacht vom Rad gezehrt wurde, wusste ich erst einmal nicht, wie mir geschah. Aber bei der Monotonie eines Multi-Day-Rennens (Schwimmen im 50 m-Becken, Radfahren und Laufen auf einer 1,8 km Runde im Park) ist jede Abwechslung willkommen. Auch war mein Gehirn trotz Extremleistungen und Schlafentzug noch wach genug um schon bald die Situation zu erfassen.

Schletts Kampfstand beim Radfahren und Laufen sowie beim Schwimmen

Man soll die Feste feiern, wie sie fallen - zu den archaischen Klängen der Mariachi-Band genoss ich die vielen Küsschen und Umarmungen der heißblütigen, jungen, aparten Mexikanerinnen, die eigens für dieses Ereignis zusammen getrommelt wurden. Und nach halbstündiger Unterbrechung wurden die restlichen 1108 km in Angriff genommen. Über diese nette Episode behielt ich stillschweigen, auch 19 Jahre danach ist den Organisatoren nicht bekannt, dass sie statt des richtigen, meinen "Extremistengeburtstag" gefeiert hatten.

Beitrag von Stefan Schlett

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Teil 2: Ice and More

Marathon wird mittlerweile überall gelaufen: In Bergwerken, auf Schiffen und Laufbändern, durch Wüsten, Berge, Dschungel, auf der chinesischen Mauer, durch Schlamm, Sand, Eis und Schnee, auf dem Meeresboden im Watt, auf Treppen, im Knast, auf der internationalen Raumstation ISS, ja sogar unter Wasser wurden schon die 42195 Meter absolviert. Selbst die Ausschreibung für einen Mondmarathon lässt sich im world wide web ausfindig machen. Aber Marathon auf zugefrorenem Wasser - ist das möglich? Ja! Seit 8 Jahren gibt es den Baikalsee Eismarathon im Süden Sibiriens.

Das Logo des Rennens Trainingslauf auf dem Eis

Ein auf der Welt einmaliges Veranstaltungsformat und ein absolutes Unikum im Laufsport-Universum! Der tiefste See der Erde ist von Dezember bis Mai zugefroren. Die ein Meter dicke Eisschicht ist im Verhältnis zur Seetiefe (maximal 1642 m) zwar nur hauchdünn. Aber im Winter entstehen regelmäßig Trassen, auf denen der 31.500 Quadratkilometer große See mit motorisierten Fahrzeugen überquert wird. Ergo, kann man auch ein paar Läufer darüber jagen. Zudem ist der Südteil des Sees gerade einmal 40 km breit - da drängt sich ein Marathon geradezu auf!

Nach dem Eismarathon schmeckt der Wodka besonders gut Die Nummer 16 erreicht für LaufReport das Ziel

Bevor die Eisläufer am frühen Morgen mit Minibussen und Luftkissenbooten auf die andere Seeseite zum Start gebracht werden, müssen sie noch ein sibirisches Ritual über sich ergehen lassen und dem Wassergott des Baikalsees mit einem Wodka huldigen: Einige Tropfen des köstlichen, lokal gebrannten Baikalwodkas werden mit dem linken Ringfinger über das Eis gespritzt, der Rest muss getrunken werden. Ist der Körper durch die Kälte äußerlich schon schockgefrostet, werden nun auch die Innereien durch die Mangel gedreht! Seit 6 Jahren zieht es mich alljährlich zum Eisplanet Baikal, da dieses spannende Event mit Expeditionscharakter eine besondere Faszination ausübt und immer wieder mit Überraschungen aufwartet. Einmal war mitten auf dem See ein Eisschlösschen aufgebaut, ein anderes mal musste wegen einem Erdbeben die Strecke modifiziert werden und vor einigen Jahren wurden wir von Miss Irkutsk, zugleich die Vize-Schönheitskönigin von Russland, im Ziel empfangen.

Der Autor bei seiner Lieblingsbeschäftigung: Eisbaden Eisplanet Baikal: 31.500 Quadratkilometer gefrorenes Wasser

Die abgefahrenste Idee kam dem Autor bei seiner dritten Teilnahme: Warum die Anfahrt zum Start nicht zu einem Duathlon nutzen? Mit einem alten verrosteten Bike ging's im ersten Tageslicht bei frostigen -15°C los. Einer traumhaften Morgenstimmung folgte bald Ernüchterung in Form von kräftezehrender Wühlerei im Tiefschnee. Hätte ich doch vor dem Start einen Wodka gekippt, um den Baikalgott milde zu stimmen. Egal, durchbeißen! Nach 4:20 Std. war -fast zeitgleich mit den Läufern, die mit ihren Minibussen ebenfalls erhebliche Probleme im tiefen Schnee hatten- der Start zum Marathon erreicht. Mit schweren Beinen ging's nun zu Fuß auf den Rückweg. Bei Kilometer 10 gab's dann tatsächlich einen Wodka. Von da an lief es besser und auch der zweite Teil war in 5:42 Std. abgehakt. Und wenn sich in Zielnähe ein offenes Wasserloch befunden hätte, wäre daraus glatt noch ein Triathlon geworden. Immerhin ist es im Wasser wärmer, als an der Luft…

Beitrag von Stefan Schlett

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Teil 1: Laufen ist verdammt gefährlich…

Frühjahr 2003, Trans Europe Footrace: 3 ½ Dutzend Laufextremisten haben sich auf den Weg gemacht, die 5045 km lange Strecke von Lissabon nach Moskau in 64 Tagesetappen zu bewältigen. Ein historisches Rennen. Noch nie gab es einen Wettkampf quer durch Europa. Faktisch heißt das: jeden Tag ein doppelter Marathon, 2 Monate Zigeunerleben, 11 - 12 Stunden täglicher Straßenkampf mit irren Autofahrern, Kampfhunden, maroden Asphaltpisten, bekloppten Wetterlagen und Legionen innerer Schweinehunde. Praktisch bedeutete das täglich rund 7000 Kcal Nahrungsaufnahme und bis zu 15 Liter Flüssigkeitszufuhr, damit der Motor rund lief. Problem: die Entsorgung desselben nahm mindestens eine Sitzung und rund ein Dutzend Pinkelpausen während jeder Laufetappe in Anspruch. Die Gefahr der Festnahme durch einen Polizisten, wie beim Trans-Amerika-Lauf in den stockprüden USA bereits geschehen, besteht im aufgeklärten Europa weniger. Aber wohin, wenn die Blase drückt? Denn die nimmt keine Rücksicht darauf ob der Läufer sich gerade auf einsamer Landstraße befindet, in dem ein vertrockneter Strauch geradezu nach Düngung durch hochkonzentriertes Läuferurin schreit, oder mitten in einer pulsierenden Großstadt.

Großraum Paris, 24. Etappe von Marly le Roi nach Orry la Ville. Der Überdruck auf der Blase ist beängstigend und erlaubt keine weitere Verzögerung. Aber selbst nach 2000 Kilometern Zigeunerleben auf der Straße sind noch genügend Skrupel vorhanden, um sich nicht wie eine asoziale Sau zu benehmen. Da, plötzlich naht Rettung: Ein Gartenzaun mit dichtem Bewuchs und überhängendem Buschwerk, das Deckung bietet. Ist das herrlich, sich zu erleichtern! Die Prostata leidet auf solch einer Laufexpedition mindestens genauso wie die Laufwerkzeuge. In diesem Moment -und ohne Vorwarnung- taucht mit gefletschten Zähnen ein Hundekopf zwischen den Gitterstäben des Zaunes auf und schnappt nach meinem besten Stück. In buchstäblich letzter Sekunde gelingt mir mit einem verzweifelten Rückwärtssprung die Rettung vor der Entmannung! Eimerweise rast das Adrenalin durch meinen geschundenen Körper und vertreibt den Resturin. Holy Shit - das wäre beinahe in die sprichwörtliche Hose gegangen! Noch lange höre ich beim Weiterlaufen das Gebell der Bestie…

2000 Kilometer weiter in der osteuropäischen Tiefebene. Irgendwo in Weißrussland an der Peripherie einer Kleinstadt. Kaum Verkehr, kein Mensch zu sehen, Hecke am Straßenrand. Die ideale Gelegenheit, um dem "besten Freund" die dringend notwendige Entlüftung und Entwässerung zu gönnen.

Kaum ist das Business erledigt, kommen zwei Frauen mittleren Alters aus einem Seitenweg, sehen den "Sittenstrolch" und fangen an, mich auf das Übelste zu beschimpfen. Ich denke lass` sie meckern, nach 4000 km kann mich nichts mehr erschüttern, packe mein Gehänge ein und begebe mich wieder auf die Piste. Auf Höhe der beiden erbosten Damen angekommen holt die eine -weniger damenhaft- weit aus und gibt mir einen kräftigen Tritt in den Hintern. Ich denke mich tritt ein Pferd! Zum Glück an die richtige, nämlich am besten gepolsterte Stelle, so dass ich ohne Blessuren davon komme. Donnerwetter, die russischen Frauen haben Temperament! Ich lasse mir nichts anmerken und laufe weiter. Es sind ja nur noch 1000 Kilometer…

 
Nein, das ist kein Dödel! Schlett beim Eistauchen zwischen zwei sieben Meter auseinander liegenden Eislöchern, gesichert durch Rettungsleine unter und Taschenlampe auf der Eisdecke.

Beitrag von Stefan Schlett

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