Noch immer kommt unser Kolumnist Dr.-Ing. Markus Heidl aus dem Staunen nicht heraus. Und was war das auch für ein Marathon, der landauf, landab verfolgt wurde, mit dem großartigen Ergebnis, fast nach einem Soloritt. "Es ist ein Weltrekord, der schlicht und einfach unvorstellbar schnell ist. Auf eine selbstmörderische 61'07 für den ersten Halbmarathon ließ er quasi im Alleingang eine 60'33 folgen. Superlative sind in Anbetracht dieser Leistung immer noch eine Untertreibung. Es ist schlicht und einfach unglaublich", so Markus Heidl.

Walter Wagner, 22.9.2018

Laufen wie Kipchoge

von Markus Heidl

Seit Sonntag ist die Welt eine andere. Seit Sonntag steht mein Mund offen und ich staune.

Verantwortlich dafür ist Eliud Kipchoge. Er hat seine Dominanz gekrönt und ist nun vollumfänglich der großartigste Marathonläufer aller Zeiten: Olympiasieger, neun Siege hintereinander (10 Siege in 11 Marathons) und jetzt auch Weltrekordhalter - und zwar mit riesigem Abstand.

Es ist ein Weltrekord, der schlicht und einfach unvorstellbar schnell ist. Auf eine selbstmörderische 61'07 für den ersten Halbmarathon ließ er quasi im Alleingang eine 60'33 folgen. Superlative sind in Anbetracht dieser Leistung immer noch eine Untertreibung. Es ist schlicht und einfach unglaublich. Der deutsche Rekord von Carsten Eich ist eine Sekunde langsamer als Kipchoges zweite Hälfte.

Und was wäre erst möglich gewesen, wenn die Pacemaker so lange mitgehalten hätten, wie es geplant war? Denn nach dem Breaking2-Projekt, bei dem es auch Kipchoge war, der in neue Sphären laufen konnte, redeten alle vom Windschatten (und die Marketing-Leute von den Schuhen), und das dieser Effekt bis zu vier Minuten ausmache. In Berlin aber waren die Pacemaker früh raus. Die ersten beiden sehr früh, der dritte bereits nach 25 km. Es ist eben schwer, Läufer zu finden, die sein Tempo auch nur einen Kilometer weit halten können. Ganz zu schweigen davon, 30 km gleichmäßig vorneweg zu laufen. An dieser Marke war noch kein Mensch so schnell wie er (ausgenommen bei seinem Lauf in Monza und dort auch nur er selbst).

Wichtiger aber noch als all die Wissenschaft hinter dem Projekt war der mentale Nutzen für Kipchoge. Er glaubt daran, dass er die Zwei-Stunden-Marke knacken kann. "No human is limited" ist das Motto, dass er lebt. Und davon können wir uns alle eine dicke Scheibe abschneiden. Natürlich können wir keine 2h01 laufen, aber doch unsere eigenen Grenzen durchbrechen. Dafür braucht es die richtigen Gedanken, die richtige Einstellung. "Mindset" würde ein überbezahlter Berater sagen: Selbst wenn wir noch so hart trainieren wissen wir im Innersten, dass am Wettkampftag nicht die Beine entscheiden. "Herz und Seele", wie Eliud es sagen würde, müssen stark sein. Andere nennen es Tagesform.

Dort ist er mit Abstand der Stärkste. Ruhig und besonnen, konzentriert, fokussiert. Auch wenn er den anderen nicht wie in Berlin schon nach einer Meile enteilt ist, dominiert er das Feld von Beginn an. Ob er in der Gruppe vorne, mittig oder hinten läuft, alle schauen auf Kipchoge. Die Ausstrahlung des sicheren Siegers. Eine Ausstrahlung, die fesselt: wenn Kipchoge läuft, wird in der Berichterstattung weniger vom Rest des Feldes gezeigt als bei anderen Marathons.

Selbstverständlich müssen auch die Grundvoraussetzungen passen. Kipchoge ist ein akribischer Planer, das Training also ausgeklügelt und am Rande des möglichen, die Verpflegung perfekt und die Grundgeschwindigkeit einfach vorhanden.

Bisher war Kimetto der einzige Läufer unter 2h03, auch wenn Kipchoge, Kipsang, Kenenisa Bekele und Emmanuel Mutai nur bis zu 16 Sekunden Abstand hatten. Niemand ist bisher auch nur annähernd in Richtung 2h02 gelaufen, eine Marke, die Kipchoge jetzt gebrochen hat: auf seinen Weltrekord-Zieleinlauf folgen Jubel und Fotos. Dennoch zeigt die Zieluhr bei seinem ersten Handschlag bei den Zuschauern im Zielkanal 2:03:20 Stunden - vor sechs Jahren wäre das noch Weltrekord gewesen.

Seit Sonntag ist die Welt eine andere. Die Zwei-Stunden-Marke ist in greifbare Nähe gerückt, zumindest für Kipchoge, für den es keine Grenzen zu geben scheint. Es ist allein selten, dass ein Läufer mehr als zwei bis drei Jahre in der absoluten Weltspitze läuft. Kipchoge ist in seinem sechsten Jahr so stark wie nie. Er ist den besten Marathon aller Zeiten gelaufen.

Was aber, wenn es einfach nur Kipchoge war? Wenn die Schuhe, die Strecke und die Pacemaker überhaupt keine Rolle spielen, sondern wir einfach nur den besten Marathonläufer aller Zeiten erlebt haben, der in perfekter Form den perfekten Tag erwischt hat?

Dann steht dieser Weltrekord für immer.

Beitrag von Markus Heidl

Foto © www.herbertsteffny.de

leserbriefe@laufreport.de

Aktuelles im LaufReport HIER

© copyright
Die Verwertung von Texten und Fotos, insbesondere durch Vervielfältigung oder Verbreitung auch in elektronischer Form, ist ohne Zustimmung der LaufReport.de Redaktion (Adresse im IMPRESSUM) unzulässig und strafbar, soweit sich aus dem Urhebergesetz nichts anderes ergibt.

Datenschutzerklärung