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14.11.10 - 24. Turin MarathonAm Fuß der unsichtbaren Berge |
von Ralf Klink
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"Piemonte" heißt die Region im Nordwesten Italiens, übersetzt "am Fuß der Berge". Eine ziemlich treffende Bezeichnung, besteht sie doch aus zwei völlig unterschiedlichen Landschaftstypen, nämlich einer nur leicht welligen Ebene, die nach Westen hin in einem großen Halbkreis von Hochgebirge umschlossen ist. Der Übergang zwischen beiden ist zudem ziemlich abrupt, so dass zumindest optisch Zwei- und Dreitausender oft direkt aus dem Flachland heraus zu wachsen scheinen.
Auch Turin, die recht zentral gelegene Hauptstadt Piemonts, ist deshalb nicht allzu weit von den Bergen weg. Nicht einmal die Distanz eines Marathons muss man zurücklegen, um aus der nur gut zweihundert Meter über dem Meer erbauten Metropole mitten in die Alpen zu gelangen. Auf vielen der Panoramabilder, die man von der auf Italienisch "Torino" genannten Stadt zu sehen bekommt, scheinen die Gipfel deshalb zum Greifen nah.
Dennoch würden wohl hierzulande bei weitem nicht alle Befragten Turin direkt am Rande des Hochgebirges erwarten. Die Vergabe der Olympischen Winterspiele 2006 in die vermeintliche Industriestadt, die man hauptsächlich als FIAT-Standort die Abkürzung bedeutet nicht anderes als "Fabbrica Italiana di Automobili Torino" kennt, war deshalb für viele auch eine gewisse Überraschung. Doch von den klassischen Skiorten sind diese im neuen Jahrtausend ja längst in die großen Metropolen umgezogen.
Kurze Wege haben sich damit zwar erledigt. Vom Stadtzentrum bis zu den Alpinpisten von Sestriere, den Schanzen von Pragelato oder den Biathlon-Loipen von San Sicario sind es rund einhundert Kilometer. Kaum anders stellte es sich aber auch in diesem Jahr mit Vancouver und Whistler dar. Die gigantische Infrastruktur, die solche Großveranstaltungen inzwischen erfordern, lässt sich anders eben nicht mehr bereit stellen.
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Von den auf römische Ursprünge zurück gehenden alten Stadtbefestigungen Turins sind noch einige kleine Teile erhalten |
Wenig ist davon in den Köpfen hängen geblieben. Dass in Turin vor nicht allzu langer Zeit Olympia stattfand, ist gelegentlich nicht einmal mehr richtig präsent. Viel zu schnelllebig ist die Welt geworden. Und Elefantengedächtnisse sind eher selten. Bei so manchen sind die Ereignisse, die sich erst vor wenigen Jahren in den Alpen abgespielt haben, vermutlich sogar bereits wieder völlig vergessen.
Den meisten fällt deshalb bei der Kombination "Turin und Sport" erst einmal der Fußballclub Juventus ein, der seit Jahrzehnten zu den führenden Adressen in Europa gehört. Und dann ist in der Regel auch schon Schluss. Dass man in Turin auch einen Marathon laufen kann, vermutet hierzulande zwar der eine oder andere, sicher dürfte sich dabei allerdings kaum jemand sein. Der internationale Bekanntheitsgrad des Laufes schwankt schließlich zwischen "gering" bis "nicht existent".
Mit ungefähr zweitausend Teilnehmern hat man auch in Italien selbst nicht unbedingt den höchsten Stellenwert. Neben dem in den letzten Jahren regelmäßig die Zehntausendermarke durchbrechenden Hauptstadtlauf in Rom ziehen da auch Florenz und Venedig mit acht- bzw. sechstausend Läufern ganz andere Massen an. Und der norditalienische Rivale aus dem nur gut einhundert Kilometer entfernten Mailand ist ebenfalls ungefähr doppelt so groß.
Kaum kleiner dürfte die zwischen den beiden Städten vorhandene Konkurrenz dadurch geworden sein, dass der bisher Ende November oder Anfang Dezember stattfindende Milano City Marathon im letzten Jahr beschloss, das Rennen einige Monate nach hinten zu verschieben und in den April des Folgejahres umzuziehen. Dumm nur, dass ausgerechnet um diese Zeit eigentlich auch immer der Lauf in der Hauptstadt des Piemont angesetzt war.
Der Terminkalender im Norden Italiens ist dadurch jedenfalls ziemlich durcheinander geraten. Denn natürlich wich man nun in Turin auch nach hinten aus und positionierte sich auf dem freigewordenen Herbsttermin. Der traditionelle Lauf von Mailand nach Pavia, der bisher nur über dreiunddreißig Kilometer führte, wurde um einen zusätzlichen Marathon ergänzt und sprang vom bisherigen Austragungsdatum im September ebenfalls in den November.
Ob das Ausfallen des mit mehr als dreißig Auflagen nun wahrlich alteingesessenen Frühjahrsmarathons von Ferrara in diesem Jahr ebenfalls mit dem Mailänder Umzug zu tun hat, lässt sich angesichts einer doch etwas größeren räumlichen Distanz nicht belegen. Aber geholfen hat der nur zwei Wochen und zweihundert Kilometer entfernte Lauf in Mailand sicher auch nicht, die Absage zu verhindern. Immerhin will man in Ferrara 2011 wieder antreten.
Interessant ist es zu sehen, dass nicht Milano sondern eher Torino vom Termintausch profitiert hat. Denn während man in der Lombardei von über viertausend Läufern im November 2008 auf weniger als dreieinhalbtausend im April 2010 zurück fiel, kann Turin nach zuletzt meist nur fünfzehn- bis achtzehnhundert Startern nun deutlich über zweitausend Meldungen entgegen nehmen.
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Der Dom San Giovanni Battista, | der Palazzo Chiablese und die Kirche San Lorenzo ... | sowie der Palazzo Reale bilden einen zusammen hängenden Komplex |
Das entspricht zwar noch immer nicht der Größenordnung, die Turin als viertgrößte Metropole des Landes eigentlich haben müsste. Doch im noch deutlich größeren Neapel kommt man ja nicht einmal über vier- bis fünfhundert Teilnehmer hinaus, was zum einen sicher damit zusammen hängt, dass im Norden Italiens das Laufen einen deutlich höheren Stellenwert hat.
Zum anderen wird allerdings auf der Stiefelhalbinsel bei der Rennauswahl wohl auch noch deutlich stärker als hierzulande nach touristischen Gesichtspunkten gewichtet, haben Rom, Florenz oder Venedig, ja selbst Mailand eben in dieser Hinsicht doch einen wesentlich besseren Namen. Und anscheinend nicht nur im Ausland sondern auch in Italien selbst.
Ein wenig unterschätzt wird Turin dabei allerdings schon. Zwar ist vom schon vor der Zeitenwende gegründeten römischem Augusta Taurineum außer einem alten Stadttor, der Porta Palatina, und den Ruinen des Amphitheaters nicht mehr viel erhalten. Und auch die Zeugnisse aus Mittelalter und Renaissance, die so viele andere italienische Städte prägen, sind eher selten.
Denn zu jener Zeit, als in den zahlreichen nord- und mittelitalienischen Stadtrepubliken Kunst und Handel blühten, war die heutige Metropole kaum mehr als ein unbedeutendes Provinzstädtchen. Dennoch steht Torino gleich mit einer ganzen Reihe von Bauwerken in der UNESCO-Weltkulturerbeliste.
Im Jahr 1563 verlegte nämlich Emanuel Philibert, der Herzog von Savoyen die Hauptstadt seines kleinen Reiches, das sich auf beiden Seiten der westlichen Alpen erstreckte, von Chambéry nach Turin, um sich der französischen Einflussnahme besser entziehen zu können. Vor allem unter seinen Nachfolgern wurde die Stadt dann zu einer repräsentativen Residenz ausgebaut.
So finden sich dann auch alleine in Turin rund ein halbes Dutzend Schlösser der Savoyer, noch einmal so viele in der direkten Umgebung. Diese größtenteils im Barockstil errichteten Bauten sind es auch, die den besonderen Schutz der Weltkulturorganisation erhalten haben. Eine Auszeichnung, die in Italien allerdings deutlich weniger bedeutet als anderswo. Denn kein anderer Staat hat mehr davon. Und nur Spanien kann in dieser "Wertung" überhaupt halbwegs mithalten.
Gleich zwei der Schlösser können die Marathonis bereits beim Abholen der Startunterlagen begutachten. Denn mitten auf der Piazza Castello, der guten Stube Torinos, ist für deren Ausgabe von den Organisatoren eine kleine Zeltstadt errichtet worden. Auch eine allerdings eher bescheidene Marathonmesse hat darin ihren Standort.
Und die eine Seite des fast vollständig für Fußgänger reservierten Platzes, auf dem während der Olympischen Spiele 2006 auch die abendlichen Siegerehrungen durchgeführt wurden, nimmt der Palazzo Madama ein. Die Bezeichnung "Damenpalast" hat er von der Tatsache, der bevorzugte Wohnsitz gleich mehrerer Fürstinnen gewesen zu sein.
Der Palast ist ein optisch eher seltsam anmutendes Gebäude. Im Kern eine mittelalterliche Burg, in die man sogar Teile eines antiken Stadttores integrierte, wurde er zu Beginn der Renaissance noch einmal erweitert. Die Umgestaltung dieser Festung zu einer fürstlichen Residenz konnte allerdings auch wegen des ziemlich schnörkellosen Stils jener Zeit den ursprünglichen Zweck des Bauwerks weiterhin nicht verheimlichen. Und der Name Piazza Castello auf Deutsch "Burgplatz" erinnert ebenfalls daran.
Trotz der sich über mehr als tausend Jahre erstreckenden Bauzeit wirkt das Gebäude auf der Rückseite noch einigermaßen harmonisch. Völlig ungewöhnlich wird der Palazzo allerdings durch die der Piazza zugewandten Front. Denn im achtzehnten Jahrhundert ergänzte man einen neuen Barockflügel, der mit seinen üppig verzierten Marmorfassade so gar nicht zur nüchtern und ein wenig düster wirkenden alten Trutzburg dahinter passen will.
Wie dieser Teil des Schlosses aussieht, können die Besucher im Herbst 2010 jedoch nur erahnen. Denn während seiner Restaurierung ist der gesamte Palast von einem Bauzaun umgeben. Und die Barockfassade verbirgt sich sogar vollständig hinter einer Plane, die immerhin deren Umrisse als Aufdruck zeigt.
Dafür ist aber der zweite Palast an der Stirnseite des Platzes in seiner vollen Pracht zu bewundern. Er trägt den Namen Palazzo Reale. Seit dem frühen achtzehnten Jahrhundert führten die Turiner Herrscher nämlich nicht nur den Titel des Herzogs von Savoyen sondern waren auch Könige von Sardinien. Der politische und ökonomische Schwerpunkt des Reiches blieb allerdings trotzdem auf dem Festland. Und Turin wurde dadurch für mehr als ein Jahrhundert zur Hauptstadt eines Königreichs.
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Direkt am Ufer des Po liegt die Kirche Gran Madre di Dio |
Einige Jahre lang wurde sogar ganz Italien von Torino aus regiert. Während der Phase des Risorgimento, in der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts die in viele kleine, selbstständige Territorien aufgespaltene Stiefelhalbinsel zu einem Nationalstaat wurde, war Vittorio Emanuele II, der Herrscher von Sardinien-Piemont nämlich zum italienischen König aufgestiegen.
Im Jahr 1861 wurde in Turin von ihm das neue Königreich Italien proklamiert. Doch schon 1864 verlegt man die Hauptstadt ins toskanische Florenz. Nachdem auch der bis dahin unabhängige Kirchenstaat des Papstes rund um Rom besetzt worden war, zog der Sitz der italienischen Regierung und des Monarchen allerdings 1871 noch weiter nach Süden in die "ewige Stadt".
Genau dort, wo der Zaun, der den Platz in zwei Teile trennt, in einem großen Portal den Zugang zu Palazzo Reale freigibt, ist bereits das Ziel des Marathons aufgebaut. Die letzten Meter werden also mitten über den Platz und direkt auf den königlichen Palast zu führen. Viel imposanter als der in Turin kann ein Zieleinlauf wohl kaum noch ausfallen.
Während einige der wichtigsten Sehenswürdigkeiten der Stadt den Läufern also schon frühzeitig vorgestellt werden, können sie etwas anderes, was die Werbeprospekte in ihren Hochglanzfotos versprechen, am Samstag vor dem Rennen nicht im Geringsten erblicken. Das Bergpanorama verbirgt sich nämlich in dichtem Dunst und niedrig hängenden Wolken. Selbst die Hügel, die praktisch gleich hinter dem Stadtzentrum beginnen, sind kaum zu erkennen.
Für den nächsten Tag sind die Vorhersagen nicht wirklich besser. Der November in Norditalien präsentiert sich zumindest am Marathonwochenende also auch nicht freundlicher als hierzulande meist üblich, sondern ist ebenfalls eher trüb, grau und trist. Und das Piemont liegt nur am Fuß von unsichtbaren Bergen. Zumindest wirklich kalt ist es bei Temperaturen knapp oberhalb der Zehn-Grad-Marke allerdings nicht.
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Über den Po, den größten Fluss Italiens, spannt sich der blumengeschmückte Ponte Vittorio Emanuele |
Das ist durchaus von Vorteil. Denn die Pizza- und Pastaparty, zu der die Veranstalter des Marathons die Teilnehmer am Samstagabend eingeladen haben, findet unter freien Himmel statt. Auch hierzu hat man sich jedoch wieder einen durchaus bemerkens- und sehenswerten Standort ausgesucht. Direkt vor den Porte Palatine in der Umgangssprache der Turiner ist eher die Pluralform üblich sind die Bierzeltgarnituren aufgeschlagen, an denen man zum Aufladen mit Kohlehydraten Platz nehmen kann.
Ungewöhnlich wirkt der Torbogen aus der Antike, dem später noch zwei sechzehnseitige Türme hinzugefügt wurden, vor allem durch seine rote Farbe. Schließlich ist er nicht aus massivem Stein sondern aus Ziegeln errichtet. Auch bei anderen Bauten, insbesondere einigen der Campanile jener unzähligen Kirchen, denen man in Turin wie in vielen anderen italienischen Städten an fast jeder Ecke begegnen kann, hat man dieses Material verwendet. So auffällig wie am Nordzugang der früheren römischen Siedlung ist das aber selten.
Im Licht der Scheinwerfer, die für die erst kurz vor sieben Uhr am Abend beginnende Nudelparty rund um das zumindest antik wirkende, vielleicht aber sogar wirklich antike Pflaster der Piazza Cesare Augusto vor der Porta aufgebaut sind, sieht diese jedoch ebenso beeindruckend, wenn nicht sogar beeindruckender aus.
Wie ohnehin Torino dank vielfältiger, bunter und ziemlich kreativer Beleuchtung der Plätze und Straßenzüge der Innenstadt am Abend eigentlich fast freundlicher und angenehmer erscheint als im trüben, die Stimmung drückenden Tageslicht eines dunstigen Novembertages, für das die Turiner allerdings natürlich nichts können.
Für die Marathonteilnehmer sind die Pizza- und Pastaportionen, die von den Köchen des neben dem Stadttor gelegenen Restaurants in für sie ungewöhnlich großen Stückzahlen produziert werden, kostenlos. Auch sie sind im bis Oktober vierzig bzw. bis zehn Tage vor dem Lauf fünfzig Euro betragenden Startgeld enthalten. Genau wie das fast schon obligatorische T-Shirt.
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Der Borgo Medievale, die Nachbildung einer Siedlung aus dem Mittelalter, steht schon über ein Jahrhundert im Turiner Stadtpark |
Doch statt meist eher uninteressanter Probepäckchen wie hierzulande finden sich in der Plastiktüte mit den Startunterlagen zudem noch ein Paar Laufsocken und ein kleiner Rucksack. Wie so oft im Süden Europas fällt das Preis-Leistungs-Verhältnis auch in Turin aus Läufersicht durchaus positiv aus.
"Dal 1897" steht auf dem T-Shirt, "seit 1897". Eher zufällig und belanglos für den Aufdruck scheint dabei, dass 1897 der Fußballclub Juventus gegründet wurde. Vielmehr fand nur ein Jahr nach dem ersten Marathonlauf der Geschichte bei den Olympischen Spielen von Athen auch in Turin ein ähnlicher Wettkampf über eine damals allerdings noch etwas kürzere Distanz statt.
Doch im Gegensatz zum im gleichen Jahr ins Leben gerufenen Klassiker von Boston wurde daraus eben keine dauerhafte Veranstaltung. Es blieb bei einem einmaligen Versuch. Nicht nur deshalb stellt sich die Zählung der Turiner Marathonläufe recht kompliziert dar. So gab es in den Zwanzigern und Dreißigern eine ganze Reihe von Rennen. Eine Serie, die dann wieder mit der 1934 in Turin ausgetragenen ersten Leichtathletik-Europameisterschaft endete.
Es folgt ein neuer Versuch im Jahr 1974, dann erneut einige Jahre Pause, ein Doppelpack 1978 und 1979, wieder zwei Jahre ohne Marathon und schließlich von 1982 bis 1985 immerhin eine Serie von vier Rennen nacheinander. Das alles auf unterschiedlichsten Kursen und mit verschiedenen Bezeichnungen. Konstanz sieht definitiv anders aus.
Im Jahr 1987 beginnt dann die ununterbrochene Reihe von Veranstaltungen, auf die der aktuelle Turin Marathon seine Nummerierung zurück führt. Bei vierundzwanzig Rennen ist man deshalb angekommen. Aber auch da gibt es schon wieder ein ziemliches Haar in der Suppe, mit dem das Zählungsdurcheinander dann komplett wird.
Denn zwar ist zumindest der Veranstalter seitdem stets der Gleiche, doch wurden die ersten vier Läufe gar nicht in Turin ausgetragen, sondern zwischen Susa und Avigliana, die etwa sechzig bzw. dreißig Kilometer westlich der Stadt liegen. Auch firmierten diese zu jener Zeit noch unter dem Namen "Susavigliana Marathon". Also kann man sehr wohl darüber streiten, ob man sie überhaupt mitrechnen darf und muss.
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Auch eine komplette Burg hat man für den Borgo Medievale nachgebaut | Die Kirchen San Carlo und Santa Cristina nehmen eine Seite der Piazza San Carlo ein |
Danach ging es noch siebenmal vom früheren Zielort Avigliana nach Torino hinein. Und erst seit 1998 findet man dann sowohl "Partenza" als auch "Arrivo" wirklich in der Piemont-Metropole. Nebenbei wanderte man im Kalender dabei auch noch vom September über den Mai in den April und nun wieder in den November.
So gesehen ist die Geschichte des Marathons von Turin jedenfalls ein ziemlich schönes Beispiel dafür, dass selbst simpel erscheinende Fragen sich oft als gar nicht so leicht zu beantworten heraus stellen können. Meist müssen vorher erst einmal ganz genau die zugrunde liegenden Definitionen und Rahmenbedingungen geklärt werden. Wirklich einfache Lösungen für Probleme gibt es im Allgemeinen eben selten.
Über der Jahreszahl steht "Turin Marathon" auf dem T-Shirt und nicht etwa "Maratona di Torino", wie es im Italienischen eigentlich lauten müsste. Auch sonst tritt die Veranstaltung unter dieser international verständlichen Bezeichnung an. Schließlich ist die Stadt in den meisten europäischen Sprachen als "Turin" bekannt. Eigentlich nur in Italien selbst nennt man sie "Torino".
Übersetzen könnte man das durchaus auch als "kleiner Bulle". Und die Metropole führt tatsächlich einen Stier in ihrem Stadtwappen. Doch ist das im Grunde nur eine moderne Fehlinterpretation. Denn ursprünglich kommt der Name keineswegs von einem "Toro" sondern von dem während der Antike in der Gegend ansässigen keltischen Volkstamm der Taurini. Sogar im lokalen Piemontesischen heißt die Stadt "Turin", wobei man das "u" allerdings eher wie ein "y" oder "ü" spricht.
Heutzutage von den meisten nur als italienischer Dialekt betrachtet, war es bis zum neunzehnten Jahrhundert noch eine eigenständige Schriftsprache mit einer Übergangsstellung zwischen den italoromanischen Mundarten im Süden der Halbinsel und den galloromanischen im jetzigen Frankreich. Erst nach der italienischen Vereinigung wurde Piemontesisch durch das aus dem toskanischen Dialekt entstandene und deutlich abweichende heutige Standarditalienisch verdrängt.
Inzwischen wird die Sprache wie viele andere Regionalsprachen als bedroht eingestuft. Doch immerhin wird sie noch von rund zwei Million Menschen zumindest verstanden. Kaum anders ergeht es dem Ligurischen, das man ursprünglich nicht nur an der Italienischen Riviera bis hinüber nach Monaco sondern auch ganz im Süden des Piemont verwendete und gelegentlich noch immer verwendet.
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Aus vielen kleinen Laternen in den Nationalfarben besteht die Beleuchtung auf der Piazza Palazzo di Città | Mitten in der Pforte des königlichen Schlosses ist das Ziel des Turin Marathon aufgebaut |
Das westlich an Piemontesisch und Ligurisch anschließende Provenzalisch ist durch die seit Jahrhunderten durchgedrückte zentralistische französische Sprachpolitik sogar fast schon verschwunden. In einigen Tälern des Piemont unweit der Grenze wird es allerdings ebenfalls noch benutzt, so dass sich die Region nicht nur landschaftlich sondern auch sprachlich durchaus vielfältig darstellt.
Als normaler Tourist merkt man davon im ersten Moment eigentlich nichts. Doch bei genauerem Hinsehen entdeckt man doch ab und zu für Italien eher ungewöhnliche Benennungen. So wäre die "Madama", die dem Palast zu seinem Namen verholfen hat, in anderen Gegenden der Apenninenhalbinsel wohl doch eher eine "Signora" gewesen.
Und einem Olympiaort wie Sauze d'Oulx dürfte man weiter im Süden ganz sicher nicht begegnen. Müssten sich doch die Florentiner, Römer oder Neapolitaner fast schon einen Knoten in die Zunge machen, um diese Bezeichnung auch nur einigermaßen vernünftig heraus bringen zu können.
Der Morgen des Marathons beginnt für die Teilnehmer mit einem kleinen Schrecken. Denn der Blick aus dem Hotelfenster zeigt draußen einen ziemlich nassen Asphalt. In der Nacht muss es ordentlich geregnet haben. Und selbst wenn es nun nicht mehr in dicken Tropfen vom Himmel kommt, hängen die Wolken noch immer tief, liegt weiterhin dichter Dunst in der Luft. Den Tag über wird es gelegentlich auch einmal leicht nieseln.
Doch die Temperaturen sind nicht wirklich unangenehm. Schon um diese frühe Uhrzeit erreichen sie fast den zweistelligen Bereich. Auch der Wind hält sich in Grenzen, ist eigentlich kaum zu spüren. Für einen Marathonlauf im November kann man sich jedenfalls deutlich schlechtere Bedingungen vorstellen.
Die lange Reihe von Pavillons, die von den Organisatoren als mobile Umkleidekabinen für die Läufer aufgestellt worden sind, findet angesichts der Feuchtigkeit natürlich dennoch guten Zuspruch. Sie stehen allerdings nicht auf der Piazza Castello direkt im Start- und Zielbereich sondern eher in der Nähe der Porta Palatina. Wer von den Marathonis früh genug vor Ort ist, kann sogar noch einige Helfer beim Herübertragen der schon am Vorabend bei der Nudelparty benutzen Bänke sehen.
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Das Castello del Valentino ist eines der Turiner Schlösser auf der UNESCO-Welterbeliste |
Ziemlich genau zwischen dem römischen Stadttor und dem königlichen Palast liegt die Piazza San Giovanni, auf der die Zelte stehen. Doch eigentlich kann man gar keine wirkliche Trennung vornehmen, grenzt sie doch auf der einen Seite an die Grünfläche mit der antiken Mauer. Und auf der anderen muss man eigentlich nur durch den schmalen Torbogen zwischen dem Palazzo Reale und dem benachbarten Palazzo Chiablese hindurch, um wieder zum Burgplatz zu gelangen.
Im Umkreis von wenigen hundert Metern findet sich ein Ensemble, mit dem eilige Besucher schon einen Großteil der wichtigsten Sehenswürdigkeiten Turins abhaken können. Baulich mit dem Palast verbunden sind nämlich auch noch die Biblioteca und die Armeria Reale königliche Bibliothek und königliche Rüstkammer sowie das Archivo del Stato.
An den Chiablese-Palast schließt sich auf der gegenüberliegenden Seite der Piazza Castello die Kirche San Lorenzo mit ihrer auffälligen Kuppel an. Und auch die Überreste des römischen Theaters finden sich hinter dem Palazzo der Savoyischen Könige und damit am Marathonsonntag gerade gegenüber den Umkleidezelten.
Markantestes Bauwerk und Namensgeber der Piazza San Giovanni ist jedoch der Johannes dem Täufer gewidmete Turiner Dom, der ebenfalls direkt an den Königspalast angebaut ist. Das im Vergleich mit anderen Kathedralen äußerlich recht unscheinbare Bauwerk ist allerdings deutlich älter als der Palazzo und stammt im Kern aus dem späten fünfzehnten Jahrhundert. Der freistehende Campanile wurde zweihundert Jahre später jedoch noch aufgestockt und erhielt eine barocke Spitze.
Und hinter der eigentlichen Kirche wurde etwa zur gleichen Zeit noch ein "Cappella della Sacra Sindone" genannter Trakt angebaut, dessen Kuppel entgegen der bescheidenen Bezeichnung "Kapelle" die der ursprünglichen Kathedrale deutlich überragt. In ihr wird das berühmte Turiner Grabtuch aufbewahrt, das sich viele Jahrhunderte im Besitz des Hauses Savoyen befand.
Nach der Abschaffung der Monarchie in Italien ist es inzwischen an die katholische Kirche übergegangen, die es zwar offiziell nicht als Reliquie sondern nur als Ikone bezeichnet, allerdings vermutlich auch nicht wirklich etwas dagegen hat, dass es entgegen Untersuchungen, die eine mittelalterliche Herkunft nahe legen von vielen auch weiterhin als echtes Leichentuch Jesu verehrt wird.
Schon diese kurze und längst nicht vollständige Aufzählung zeigt, dass Turin keineswegs nur eine langweilige, triste Industriestadt ist, sondern durchaus touristisches Potential hat. Irgendwie unpassend zu dieser Ansammlung historischer Bauwerke ist jedoch der nüchterne, moderne Zweckbau gegenüber der Kathedrale unter dessen Arkaden die Marathonis ihre Taschen abgeben können.
Ähnlich deplatziert ist auch der an einer Ecke der Piazza Castello aufragende Torre Littoria. Mit seinen annähernd neunzig Metern verhindert das aus der Zeit des italienischen Faschismus stammende Hochhaus jedenfalls als einziges Bauwerk, dass der weitläufige Burgplatz ohne Einschränkungen als Kulisse für einen Historienfilm dienen könnte.
Zu seinen Füßen befindet sich quer zur Zieleinlaufrichtung die Aufstellungszone für den Marathon. Direkt neben dem Palazzo Madama ist dort über Nacht das Stahlgerüst für den Startbogen entstanden. Im Gegensatz zum "Arrivo", den man später auf dem den Fußgängern vorbehaltenen Teil des Platzes ansteuern wird, hat man die "Partenza" nämlich auf die entlang der Südseite der Piazza verlaufende Straße gelegt.
An normalen Tagen rumpeln dort die Straßenbahnen, die abgesehen von etlichen Buslinien die Hauptlast des Turiner Nahverkehrs tragen. Neben älteren in knalligen orange gehaltenen Modellen sind inzwischen auch moderne Niederflurtriebwagen auf den sich kreuz und quer durch Torino ziehenden Gleisen unterwegs, die im blau-gelb der Gruppo Torinese Trasporti gehalten sind. Diese Farbkombination ist für die stadteigene Transportgesellschaft eigentlich nicht wirklich erstaunlich, ziert sie doch auch Wappen und Flagge Turins.
Bis weit ins Umland reicht das Netz der GTT. Auch einige S-Bahnstrecken unter anderem zum von mehreren deutschen Städten direkt angeflogenen Flughafen werden von ihr bedient. Doch wirklich ins Zentrum, wie man es hierzulande gewohnt ist, stoßen die Züge nicht vor. Sie enden in einem Bahnhof ein ganzes Stück außerhalb der Innenstadt und frisch angekommene Touristen müssen von dort meist noch einmal auf den Bus umsteigen, um zu ihrem Hotel zu gelangen.
Eine einzige U-Bahnlinie gibt es in Turin. Und dies auch erst seit den Olympischen Spielen, für die man die Fördergeldtöpfe dann doch deutlich besser gefüllt hatte. Nicht einmal zehn Kilometer ist diese jedoch lang, ragt zudem im Moment auch nur von einer Seite in die Stadt hinein. Allerdings ist ein weiterer Ast in die andere Richtung zumindest bereits im Bau.
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Direkt vor dem alten römischen Stadttor, der Porta Palatina findet die Nudelparty statt |
Überraschend schwach für eine Metropole dieser Größenordnung die Hauptstadt des Piemont zählt eine knappe Million Einwohner, mit den selbstständigen Vorortgemeinden sind es sogar rund doppelt so viele ist also der Ausbaugrad bei öffentlichen Verkehrsmitteln. Doch wohl in keinem anderen Land Europas ist der Motorisierungsgrad so hoch wie in Italien. Dass viele Innenstädte deshalb chronisch verstopft sind, verwundert da wenig. Auch in Torino geht es auf den Straßen manchmal leicht chaotisch zu.
Für 9.15 Uhr war der Marathonstart ursprünglich angesetzt. Doch sowohl in den gedruckten Werbeunterlagen wie auch auf der Internetseite war da der in Italien durchaus nicht unübliche Vorbehalt von "esigenze televisive" "fernsehtechnischen Erfordernissen". Und prompt steht in der kostenlos verteilten Sonderbeilage der als einer der Hauptsponsoren auftretenden Zeitung "La Stampa" dann auch schon 9.20 als Startzeit.
So hat der frischgewählte Regionalpräsident des Piemont Roberto Cota, der den Schuss abgeben soll, dann auch noch ein paar Minuten mehr Zeit, um eine möglichst fotogene Position für die Kameras einzuüben. Dass ausgerechnet ein Mitglied der autonomistischen Lega Nord das Piemont regiert, von dem doch einst die Vereinigung des Landes ausging, ist eine der vielen Paradoxien in der italienischen Politik.
Andererseits stimmen jedoch die meisten der auf der Straße wartenden Läufer sofort lautstark mit ein, als ein Opernsänger zu "Fratelli d'Italia" ansetzt. Die gerade aus Sportübertragungen gut bekannte italienische Hymne, die nach ihrem Dichter auch "Inno di Mameli" genannt wird, hat ohnehin eine enge Verbindung zu Turin, entstand sie doch in der Zeit des Risorgimento im Königreich Sardinien-Piemont und wurde sogar in der Stadt vertont.
Für den weitaus größten Teil des Felds sind Melodie und Verse wohl vertraut. Nicht einmal jeder Zehnte von denen, die da im Startblock stehen, kommt nämlich nicht aus dem besungenen Land. Keine zweihundert Ausländer sind gemeldet. Am häufigsten kann man unterwegs später noch einmal einen französischen Brocken aufschnappen. Deutsch ist dagegen praktisch nicht zu hören. Denn sowohl die Zahl der Deutschen wie auch die der Österreicher oder Schweizer kann die Grenze von zehn nicht überschreiten.
Rechnet man aus Nichtitalienern zudem noch die eingeladenen Eliteläufer heraus, wird die Quote sogar noch deutlich niedriger. Fast selbstverständlich stehen auch in Turin mehr als ein Dutzend ostafrikanische Profis an der Linie, um auf die Jagd nach Preisgeldern zu gehen. Allerdings sind zumindest bei den Herren zwei Einheimische im Rennen, denen durchaus zuzutrauen ist, ebenfalls an der Spitze mitzumischen.
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Die Piazza Castello ist sowohl die gute Stube der Stadt als auch das Veranstaltungszentrum für den Marathon |
Ruggero Pertile ist schließlich bei den Europameisterschaften im Sommer als Vierter wirklich nur ganz knapp an einer Medaille vorbeigeschrammt und konnte im Vorjahr als Zweiter von Turin mit 2:09:53 sogar die Marke von 2:10 unterbieten. Der Sechsunddreißigjährige hat von den Organisatoren dann auch die Startnummer eins zugeordnet bekommen.
Mit Danilo Goffi, dem Sieger von 2005, hat zudem der letzte Nichtitaliener, der im Piemont erfolgreich war, nur drei Wochen nach seinem Ausstieg in Venedig erneut die Laufschuhe geschnürt. Dessen Bestzeit ist mit 2:08:33 zwar sogar noch etwas schneller wie die von Pertile, liegt allerdings schon über ein Jahrzehnt zurück. Für eine 2:11 oder 2:12 war er in den letzten Jahren jedoch ebenfalls noch immer gut.
Bei den Damen sind allerdings keine Italienerinnen bei der Aufzählung der Favoriten zu nennen. Bekannteste Namen in der Startliste sind wohl die beiden Nurgalijewa-Zwillinge Olesja und Jelena. Für sie ist ein Marathon im Vergleich zu ihren Konkurrentinnen jedoch eher noch eine kurze Distanz. Schließlich erzielten sie ihre größten internationalen Erfolge bei den beiden wichtigsten südafrikanischen Ultrarennen. Sowohl beim Comrades als auch beim Two Oceans führt seit Jahren kein Weg an den russischen Schwestern vorbei.
Selbst wenn man nicht den kompletten Text der "Brüder Italiens" versteht, fällt übrigens sofort die häufige Verwendung des Wortes "morte" auf. Während im Norden Europas Nationalhymnen doch eher etwas getragener daher kommen, ist die italienische genau wie die französische Marseillaise nämlich ein energisches Kampflied aus Revolutionstagen. Ein wenig erschreckend ist es allerdings schon, wenn man erkennt, dass da gerade die Zeilen "Italien hat gerufen, wir sind zum Tod bereit" intoniert werden.
Zum Glück schießt der Ministerpräsident dessen Partei ja für eine möglichst große Unabhängigkeit des nördlichen Teils der Stiefelhalbinsel, dem man den Phantasienamen "Padanien" verpasst hat, vom restlichen Italien eintritt in die Luft, als er das Feld auf die Strecke schickt. so dass niemand diese kurz zuvor gemachte Aussage bereuen muss.
Nur kurz ist die Startgerade. Denn nach einem kurzen Schlenker an der durch den Palazzo Madama ziemlich isolierten Südostecke des Platzes ist man in eine der wenigen Straßen eingebogen, die sich nicht am größtenteils absolut rechtwinkligen Muster des Turiner Stadtplans orientiert, sondern dieses diagonal, allerdings trotzdem wieder schnurgerade durchschneidet.
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Marathonmesse, Start und Ziel befinden sich genau vor dem Königsschloss |
Sie heißt Via Po und führt tatsächlich zum gleichnamigen Fluss. Denn selbst wenn man diesen zumeist eher mit dem italienischen Nordosten verbindet, entspringt der längste Strom des Landes ganz im Westen nahe der französischen Grenze in den Piemonter Bergen. Die sich quer durchs Land ziehende Poebene beginnt eigentlich schon bei Torino. Und das römische Augusta Taurinorum wurde nahe der Mündung der Dora Riparia in den Po gegründet.
Obwohl vom Verlauf her ein wenig ungewöhnlich, ist die Via Po dennoch eines der klassischen Beispiele für die Architektur Turins. Die einen knappen Kilometer lange Achse ist nämlich an beiden Seiten praktisch durchgängig von Arkaden gesäumt. Man erzählt sich, dass diese im siebzehnten Jahrhundert hauptsächlich deshalb errichtet wurden, damit die adligen Damen und Herren auch bei schlechtem Wetter trockenen Fußes vom Palast zu Fluss gelangen konnten.
In vielen anderen Straßen der Stadt wurde später in ähnlicher Form gebaut. Und so ziehen sich an ihnen entlang heute über fünfzehn Kilometer dieser Bogengänge kreuz und quer durch Turin. Wenn man auf der Suche nach typischen Merkmalen der Piemontesischen Hauptstadt ist, kommt man jedenfalls kaum an den Arkaden vorbei.
Das unverwechselbarste Wahrzeichen der Stadt würde man jedoch eine Querstraße weiter finden: Doch der Marathonkurs spart sich den kleinen Umweg hinüber zur Mole Antonelliana, die man auch hierzulande ab und zu im Geldbeutel hat. Denn das fast hundertsiebzig Meter hohe Gebäude nichts anderes als "großes massives Bauwerk" bedeutet das italienische "Mole" ist auf der italienischen Zwei-Cent-Münze verewigt.
Mit seiner hohen Kuppel und der darauf gesetzten schlanken Turmspitze ragt es weit über das Häusermeer der Stadt heraus. Ursprünglich sollte die Mole eine Synagoge werden, die wenige Jahre nach der italienischen Einheit besonders monumental ausfallen sollte. Doch nachdem der jüdischen Gemeinde aufgrund immer weiter steigender Kosten das Geld ausging, übernahm irgendwann die Stadt den Weiterbau. Bis zur Fertigstellung dauerte es deshalb ein volles Vierteljahrhundert.
Die Mole Antonelliana gilt bis heute als das höchste Ziegelbauwerk der Welt. Allerdings ist inzwischen der oberste, schmale Teil nur noch ein innen aus Stahl bestehender und mit Backsteinen verkleideter Nachbau. Denn bei einem schweren Unwetter in den Fünfzigern wurde das Original zerstört.
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Eher trist ist das Wetter kurz vor dem Start an der Piazza Castello |
Seit der Jahrtausendwende ist in das ziemlich ungewöhnliche Bauwerk das nationale Kinomuseum eingezogen. Lange zuvor, Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts beherberge es für einige Zeit das Risorgimento-Museum. Die Ausstellung, die sich mit der ins Deutsche übersetzt auf "Wiederauferstehung" heißenden Bewegung und Periode befasst, befindet sich allerdings nun schon seit längerem im nur wenige Straßenblocks entfernten Palazzo Carignano.
Dieser ebenfalls zum Weltkulturerbe gehörende Palast wartet auf der einen Seite mit einer weit geschwungenen, beinahe wellenförmigen Barockfassade auf. Er hat auch historisch eine enge Beziehung zur italienischen Vereinigung. Denn hinter seinen Mauern tagte nicht nur das Parlament von Sardinien-Piemont, sondern nach der "Unità d'Italia" auch das des neu ausgerufenen Gesamtstaates.
Da seine Räumlichkeiten für die gestiegene Zahl von Abgeordneten allerdings langsam zu klein wurden, ergänzte man ihn auf der Rückseite um einen weiteren Trakt. Dessen völlig anders geartete Front wirkt nicht nur auf Fotos sondern auch in natura wie ein eigenes Gebäude. Bis zu seiner endgültigen Fertigstellung war die Hauptstadtfunktion dann aber bereits an Florenz übergegangen.
Im Moment ist das Museum wegen Renovierung geschlossen, denn zum anstehenden hundertfünfzigsten Jahrestag der Einheit im kommenden Frühling soll es natürlich in neuem Glanz erstrahlen. Eine Anzeige auf dem Platz vor dem Palazzo zählt die verbleibende Zeit bis zur Wiedereröffnung herunter.
Ohnehin lassen sich bei genauerem Hinsehen im Stadtbild Turins überall Andeutungen auf das baldige Jubiläum entdecken. Da sieht man nicht nur Plakate, die für Veranstaltungen werben. Unter vielen der Arkaden hängen zudem Banner, auf denen die wichtigsten Personen und Ereignisse dieser Zeit vorgestellt werden. So wird zum Beispiel die politische Vorgeschichte des Risorgimento in den Laubengängen der gerade durchlaufenen Via Po erläutert.
Zwischen den Arkadenreihen kann man die Mole Antonelliana zwar praktisch nicht sehen. Doch auch von der Piazza Castello, von wo der Blickwinkel deutlich besser wäre, ist an diesem Sonntag deren Spitze kaum zu erkennen. Viel zu tief hängen die Wolken. Und noch immer ist die Straße nass, was auf dem aus großen Steinplatten bestehenden Pflaster der Diagonalachse noch ein wenig unangenehmer ist.
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Nur wenige Schritte vom Ziel entfernt findet man in Turin die "Partenza" | Fast einen Kilometer lang verläuft die Via Po mit ihren Arkaden immer geradeaus auf den Fluss zu |
Der nicht einmal zehnjährige Schlagzeuger, der in der Nähe der Ein-Kilometer-Marke am Straßenrand sitzt und seine Trommeln bearbeitet, erhält auch aus dem vorbeilaufenden Feld Beifall. Was im ersten Moment nur wie eine zufällige private Aktion aussieht, hat allerdings durchaus System. Denn er ist zwar der erste, aber keineswegs der einzige.
In regelmäßigen Abständen meist nicht mehr als fünfhundert Meter sind nämlich viele weitere davon auf der Strecke verteilt. Alleine, in Zweier- oder Dreierteams sorgen sie dort für regelmäßige rhythmische Untermalung. Mindestens eine Hundertschaft von ihnen haben die Organisatoren des Marathons verpflichtet.
Und gerade im Schlussteil der Strecke, in dem sie sich wirklich meist exakt an den Kilometerschildern platziert haben, zeigen ihre Künste als kleine Motivationshilfe das Nahen dieser nächsten Zwischenmarkierung bereits akustisch an, lange bevor die Zahlentafeln überhaupt ins Blickfeld kommen.
Die Via Roma weitet sich zur langgezogenen Piazza Vittorio Veneto. Mit über vierzigtausend Quadratmetern zählt der Platz nach dem Ort der letzten im ersten Weltkrieg zwischen Italien und dem habsburgischen Kaiserreich geschlagenen Schlacht benannt zu den größten seiner Art in Europa.
Auf drei Seiten ebenfalls von Arkadengängen gesäumt, öffnet er sich auf der vierten zum Fluss hin. Noch immer kerzengerade steuert die Via Po über ihn die dort ans andere Ufer führende, auch im trüben Herbst mit leuchtend gelben Blumen geschmückte Brücke an. Die Marathonis überqueren sie jedoch nicht sondern biegen kurz zuvor nach rechts, um für den nächsten Kilometer der parallel zum Wasser verlaufenden Straße zu folgen.
Gleich auf der anderen Seite des Po geht das westlich des Flusses ziemlich ebene Gelände in eine Hügelkette über. Doch selbst diese ist im trüben Wetter des Novembersonntags nur sehr verschwommen wahrzunehmen. Und von den oben liegenden Aussichtspunkten, die sonst jene typischen Panoramabilder von Turin mit den Alpen im Hintergrund liefern, wird man diesmal selbst die Stadt kaum erkennen können. Die Berge bleiben sowieso unsichtbar.
Am Poufer steht wenig später ein Denkmal für Giuseppe Garibaldi, eine der Hauptfiguren des Risorgimento und der wohl populärste italienische Nationalheld überhaupt. Nicht nur in Turin sondern überall im Land kann man Monumenten begegnen, auf denen er ziemlich unverwechselbar mit dichtem Vollbart und der typischen Kappe dargestellt ist. Und eine Via Garibaldi gibt es auch eigentlich in fast jeder Stadt. In Torino ist es jedenfalls eine der Haupteinkaufsstraßen.
Schon während der auch in Italien ausgebrochenen Aufstände von 1848/49 hatte er sich einen Namen gemacht. Als Kommandeur der kleinen Revolutionsarmee verteidigte er Rom nämlich mehrere Monate gegen französische Truppen, mit denen die Herrschaft des vor der Rebellion geflüchteten Papstes und damit der Kirchenstaat wieder hergestellt werden sollte. Nach der am Ende dennoch unvermeidbaren Kapitulation gegen den überlegenen Gegner, musste Garibaldi flüchten und ging für einige Jahre nach Amerika.
Die gleichzeitigen Revolten im damals noch von den Habsburgern beherrschten Norden und die dadurch gelungene kurzzeitige Vertreibung der österreichischen Truppen aus der Lombardei und Venetien hatte das Königreich Sardinien bewogen, zur Unterstützung der Rebellion gegen die Donaumonarchie in den Krieg zu ziehen.
Schon nach wenigen Monaten endete der sogenannte Erste Italienische Unabhängigkeitskrieg allerdings mit einer Niederlage und die alten Verhältnisse wurden noch einmal für ein Jahrzehnt wiederhergestellt. Doch hatten sich die Savoyischen Könige damit endgültig an die Spitze der Nationalbewegung gesetzt.
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Kurz hinter der Kirche Santissima Annunziata | endet die Via Po an der Piazza Vittorio Veneto |
Nur ein gutes Jahrzehnt später, im Sommer des Jahres 1859, standen sich das Habsburgerreich und Sardinien-Piemont, das sich diesmal die Unterstützung des französischen Kaisers Napoleon III gesichert hatte, erneut gegenüber. Auch der inzwischen zurückgekehrte Garibaldi beteiligte sich mit einem "Cacciatori delle Alpi" "Alpenjäger" genannten Freiwilligenverband an den Kämpfen.
Diesmal waren die Savoyer erfolgreicher. Österreich musste die Lombardei abtreten, konnte Venetien aber weiterhin behalten. Auch das von einer Nebenlinie der Habsburger beherrschte Großherzogtum Toskana wurde in der Folge Sardinien-Piemont angegliedert. Und die der österreichischen Seite zugeneigten Herrscher der Herzogtümer Parma und Modena flohen, so dass zumindest der Norden und die Mitte Italiens nun zu einem Staat vereint werden konnten.
Im Süden gab es allerdings weiterhin ein Königreich mit dem seltsamen, historisch gewachsenen Namen "beider Sizilien". Denn nicht nur auf der gleichnamigen Insel sondern auch auf dem Festland bis nördlich von Neapel erstreckte sich das noch immer in absolutistischer Manier regierte Herrschaftsgebiet. Und dass dieser Feudalstaat ebenfalls nicht mehr lange existierte und 1861 tatsächlich ein Königreich Italien ausgerufen werden konnte, hat mit dem "Zug der Tausend" zu tun, durch den Garibaldi endgültig zur Legende wurde.
Wieder hatte der charismatische Anführer nämlich eine Truppe von Freiwilligen zusammen gestellt. Mit diesen gerade einmal gut eintausend Mann aufgrund der Farbe ihrer "Uniformen" auch "Rothemden" genannt landete er im Mai 1860 auf Sizilien. Schnell erhielt er weiteren Zulauf und erzielte gegen die eher schwachen Truppen des Königreichs erste Erfolge und eroberte die Insel bis zum Sommer vollständig.
Anschließend setzte er aufs Festland über und konnte auch diesen Landesteil mit seiner inzwischen auf mehrere zehntausend Mann angewachsenen Streitmacht unter eher geringem Widerstand nahezu vollständig besetzen. Das ohnehin morsche Königreich Sizilien brach regelrecht in sich zusammen.
Langsam machte der Erfolg des im Grunde republikanisch gesinnten Garibaldi die Regierung in Turin ziemlich nervös. Zwar hatte man dort die Aktion in offiziellen Äußerungen stets abgelehnt, sie jedoch gemeinsam mit den Briten insgeheim unterstützt. Nun sah man allerdings die Vormachtstellung des Savoyischen Königshauses in Gefahr geraten. Und so wurden doch noch reguläre Truppen aus dem Piemont entsandt, die nicht nur die Eroberung zu Ende bringen sondern auch Garibaldis Siegeszug stoppen sollten.
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Die weite Piazza Vittorio Veneto bietet dem Feld mehr als genug Platz | Vom kleinen Triumphbogen ab verläuft die Strecke ein ganzes Stück am Parco del Valentino entlang |
Der stellte schließlich die kurzfristig zu erreichende nationale Einheit über weiter gehende demokratische Reformen. Nur gute vier Monate nach seiner Landung auf Sizilien begegnete Garibaldi Ende Oktober in der Nähe von Neapel dem sardinischen König Viktor Emanuel II und begrüßte ihn als neuen "Re d'Italia".
Vieles an dem "Zug der Tausend" wird sicher übermäßig glorifiziert. Und am Ende war der idealistische Garibaldi vielleicht auch nur ein nützlicher Idiot, der eine Zeit lang für die eher unangenehmen Dinge gut zu gebrauchen war, den man dann aber fallen ließ, als er nicht mehr unbedingt benötigt wurde. Selbst die Bitte seine Männer, die doch für die Einheit Italiens gekämpft hatten, in die reguläre Armee zu übernehmen, wurde später abgelehnt.
Und auch der Süden wurde enttäuscht. Zentralistische piemontesische Verwaltungsstrukturen, die auf die lokalen Besonderheiten wenig Rücksicht nahmen, wurden etabliert und zudem noch die bisher eher niedrigen Steuern deutlich erhöht. Von den Hoffnungen der armen Bevölkerung auf Reformen der verkrusteten feudalen Strukturen, eine gerechtere Landverteilung und ein besseres Leben blieb nicht viel übrig.
Viele, die sich zuvor Garibaldi angeschlossen und die italienische Einheit bejubelt hatten, zogen sich in die Berge zurück und bekämpften von dort die neuen und die alten Herren als sogenannte "Briganti", die je nach Standpunkt entweder als gewöhnliche Räuber oder edle Rebellen im Stile eines Robin Hood angesehen werden. Nur mit der Stationierung größerer Truppenkontingente konnte die Lage von der Zentralregierung kontrolliert werden. Ganz so ruhmreich, wie oft getan wird, war die Vereinigung Italiens dann halt doch nicht.
Schon das Garibaldi-Denkmal mit dem Löwen zu Füßen des Nationalhelden hat etwas fast schon Theatralisches. Doch die Brückenfiguren am Ponte Umberto I und der daneben stehende kleine Triumphbogen für die piemontesische Artillerie, an denen der Marathonkurs das Flussufer verlässt, übertreffen dies noch bei weitem.
Natürlich sind viele Monumente weltweit ähnlich gestaltet, aber in Italien scheint diese oft ziemlich übertrieben wirkende Aufmachung ganz besonders beliebt zu sein. Nach gerade einmal gut zwei Kilometern sind die Marathonis jedenfalls schon an einer Handvoll Denkmäler vorbei gekommen, die mit unglaublich viel Pathos an tatsächlich wohl nur angeblich glorreiche Fürsten und Generäle, Schlachten und Kriege erinnern.
Nur wenige Schritte später ist man zwar wieder auf eine parallel zum Po verlaufende Straße eingeschwenkt. Doch nun verhindert der zwischen ihr und dem Fluss liegende Parco Valentino, der vielleicht bekannteste öffentliche Park der Stadt Turin, die direkten Sicht auf das Wasser.
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Auf dem Corso Massimo d'Azeglio läuft man schon nach wenigen Kilometern aus der Stadt hinaus | In der Halle Torino Palavela fanden bei Olympia die Eiskunstlaufwettbewerbe statt |
Dafür können sie aber im Vorbeilaufen immerhin einen Blick auf das "Castello del Valentino" genannte Schloss werfen, das wie sollte es anders sein natürlich auch mit den anderen Savoyer-Residenzen auf der UNESCO-Liste eingetragen ist. Seine drei Flügel könnte man sich durchaus auch irgendwo an der Loire stehend vorstellen. Denn sein Stil ist eher dem französischen als dem italienischen Barock entsprechend.
In diesem Park wurden 1997 die Crosslauf-Weltmeisterschaften ausgetragen, bei denen Paul Tergat den dritten seiner fünf Titel in Serie gewann. Derartu Tulu war im Frauenrennen die Schnellste. Böse Zungen behaupteten allerdings damals, dass die WM nur deshalb in Turin gelandet war, weil der zu jener Zeit fast allmächtige IAAF-Präsident Primo Nebiolo aus dieser Stadt stammte.
Auch der kleine Bruder des Turin Marathons, der vom gleichen Organisationsteam jedes Jahr im September über die nur halb so lange Distanz ausgerichtet wird, startet im Parco Valentino, genauer gesagt vor dem neben dem Castello zweiten touristischen Ziel im Park, dem Borgo Medievale.
Selbst wenn es so heißt, stammt dieses für die Marathonis von ihrer Laufstrecke aus nicht sichtbare Dörfchen inklusive der es überragenden Burg keineswegs aus dem Mittelalter sondern ist ein romantischer Nachbau aus dem späten neunzehnten Jahrhundert, bei dem man sich allerdings an verschiedenen im Piemont noch erhaltenen echten Vorbildern orientierte.
Wenig später verschwindet die Straße für einen knappen Kilometer in einem Tunnel, mit dem der kurze Abschnitt im Zentrum von Turin endgültig zu Ende geht. Gerade einmal ein gutes Zehntel der Gesamtsdistanz ist zurück gelegt und schon erreicht der Kurs die relativ austauschbaren Vorstädte. Wie in vielen anderen Städten haben die Organisatoren eben auch in Torino das Problem, dass der eigentliche Kern viel zu klein für einen durchgängig interessanten Marathon ist.
Die Macher im Piemont haben aus der Not jedoch eine Tugend gemacht und versuchen erst gar nicht irgendwelche Schleifen durch die Stadt zu legen, um auf die benötigte Distanz zu kommen. Vielmehr hat man eine große Runde durch das Umland abgesteckt, die noch sieben andere Gemeinden mit einbezieht. Nur etwa ein Drittel des Marathons wird tatsächlich auf Turiner Boden gelaufen.
Kurz hinter der Sport- und Veranstaltungshalle Torino Palavela, unter deren auffällig gewölbten Dach bei den Olympischen Spielen unter anderem die Eiskunstlaufwettbewerbe stattfanden, wechselt man dann auch bereits, ohne es eigentlich zu merken, nach Moncalieri hinüber. Denn dieses ist mit der Metropole vollkommen verwachsen.
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Eng sind die Gassen an der Kirche der Örtchens Borgaretto | Der Marktplatz von Orbassano nahe der Halbzeitmarke ist optisch und zuschauermäßig einer der Höhepunkte des Kurses |
In den bunt bebilderten Streckenplan hat man zwar das Castello di Moncalieri muss die UNESCO-Liste eigentlich noch erwähnt werden hinein gedruckt. Doch liegt dieses einige Kilometer entfernt auf der anderen Seite des Po in der Altstadt und nicht etwa in dem Neunbaugebiet, durch das der Marathon führt. Ein wenig schummeln die Organisatoren da schon, denn auch noch einige weitere auf der Karte eingezeichnete Schlösser finden sich keineswegs direkt an der Laufstrecke.
Fast genauso schnell und unbemerkt, wie man nach Moncalieri hinein gelaufen ist, läuft man auch wieder hinaus. Nur eine Brücke über das Flüsschen Sangone und das Ortschild "Nichelino" zeigt den Übergang in die nächste Vorortgemeinde an, von der als auffälligstes Merkmal vielleicht gerade noch die ungewöhnlichen Straßenlaternen am Ortseingang im Gedächtnis hängen bleiben.
Eine lange Gerade nach Süden wird von einer noch längeren nach Westen abgelöst. Und kurz darauf piepen bei zehn Kilometern zum ersten Mal die Zwischenzeitenmatten. Wenig überraschend ist eine vielköpfige Gruppe in Führung, in der ebenso wenig erstaunlich die Ostafrikaner der Ton angeben.
Unter anderem sind in ihr Habteselassie Lemma und Negash Abebe aus Äthiopien. Aus dem zweiten Läuferland Kenia halten John Komen, Daniel Limo, John Kiprotich, Richard Rotich, Lawrence Kimayo und Peter Kurui dagegen. Aber ein wenig anders als sonst zumeist ist das Bild dennoch. Denn auch die beiden Italiener Ruggero Pertile und Danilo Goffi sind noch mit dabei.
Schon in zwei Gruppen auseinander gefallen ist dagegen die Spitze bei den Frauen. Denn die Kenianerin Priscah Jeptoo und die Äthiopierin Fate Tola haben sich bereits eine Dreiviertelminute von ihren Konkurrentinnen abgesetzt. Der zweite, etwas größere Pulk setzt sich aus Florence Chepsoi, der Türkin Sizmaz Mehtap sowie den Nurgalijeva-Zwillingen und der dritten Russin Nina Podnebsnova zusammen.
Mehrere Kreisel in einem Gewerbegebiet und eine Autobahnbrücke bringen am anderen Ende von Nichelino das Läuferfeld zum Abschluss des ersten Streckendrittels hinaus ins offene Feld. Nicht wirklich lang ist die Passage, nach einem guten Kilometer ist man schon wieder nach Borgaretto hinein gelaufen. Und richtig spektakulär kommt sie auch nicht daher, abgeerntete Felder über denen Dunst und Nebel hängen. Aber bei einem Stadtmarathon erwartet man so etwas eben doch nicht unbedingt.
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Breite Alleen, wie man sie bei Kilometer 40 durchläuft, sind in Turin keine Seltenheit |
Nur wenige hundert Meter entfernt liegt das Jagdschloss von Stupinigi, das mit den anderen Residenzen der Savoyer in und um Turin in der Weltkulturerbeliste war von dieser eigentlich schon einmal die Rede aufgeführt ist. Dennoch ist es leider nur schwer zu erkennen, nicht allein wegen der trüben äußeren Bedingungen sondern auch weil es von einer ganzen Reihe von Wirtschaftsgebäuden größtenteils verdeckt wird.
Im Gegensatz zu den bisher durchquerten Siedlungen ist Borgaretto nun wirklich ein eher kleines Örtchen. Nach wenigen Minuten hat man es bereits wieder hinter sich gelassen. Und anstelle der bisher doch meist recht breiten Straßen geht es im Dorfkern durch eine eher schmale Gasse an der Kirche vorbei.
Wirklich ländlich ist aber auch Borgaretto nicht unbedingt. Denn es wartet am anderen Ortsausgang ebenfalls noch mit einem Gewerbegebiet auf. Kurz darauf steht auch die nächste Autobahnüberquerung an. Und selbst wenn es nun noch einmal einen Kilometer über offenes Gelände geht, verhindern die Wohnblöcke von Beinasco genau im Blickfeld jeden Gedanken an Idylle. Ziemlich weit ist der Speckgürtel der Metropole Turin halt inzwischen ins Umland hinaus gewachsen.
Beinasco, zu dem Borgaretto verwaltungsmäßig als Ortsteil gehört, wird jedoch nicht links sondern rechts liegen gelassen. An der Brücke, die über die Sangone hinüber und hinein führen würde, biegt die Strecke in eine ihrer wenigen echten Abzweigungen nämlich nach links ab und nimmt Kurs auf das nächste Zwischenziel Orbassano. Wie üblich auf einer langen Geraden und natürlich wieder durch ein Gewerbegebiet.
Fast vier Kilometer lang durchläuft man nicht die kleinste Kurve. Dennoch kann man aufgrund der doch langsam etwas welliger werdenden und inzwischen auch zumeist leicht ansteigenden Strecke die Straße nicht komplett einsehen. Selbst wenn eine solche Gerade in dieser Rennphase psychologisch noch nicht allzu unangenehm wird, sind die wenigsten wohl wirklich böse darüber. Das Amüsanteste in diesem Abschnitt ist jedenfalls die Neubausiedlung am Straßenrand, die den Appetit machenden Namen "Pasta" trägt.
Mit Orbassano kommt auch die Halbzeitmarke immer näher. Anfangs aus eintönigen Wohnblocks bestehend ändert sich das Bild, je tiefer man in den Ort hinein läuft, hin zu einer zwar weniger einheitlichen und harmonischen, dafür aber eindeutig natürlich gewachsenen Bebauung. Die breite, schnurgerade Piste der letzten Kilometer wird überraschend schnell von einigen kleinen Seitenstraßen abgelöst, durch die der Kurs gleich mehrere Haken schlägt.
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An der Piazza Solferino ist man für den allerletzten Kilometer wieder mitten im Stadtkern angekommen |
Und völlig unerwartet steht man nach einem erneuten Schlenker plötzlich auf dem Marktplatz der Gemeinde. Neben zwei Kirchen und dem Rathaus warten dort auch eine große Zahl Zuschauer. Das ist durchaus erwähnenswert, sind so dichte Spaliere wie im Zentrum von Orbassano doch eine absolute Seltenheit am Streckenrand des Turiner Marathons. In großen Teilen läuft man eher unter Ausschluss der Öffentlichkeit.
Doch sind solche Beobachtungen keineswegs nur auf das Piemont beschränkt. Im deutschsprachigen Raum ist man nämlich in Bezug auf Publikumszuspruch durchaus ein wenig verwöhnt. International fällt der in der Regel deutlich spärlicher aus. Meist verirren sich sogar in den Stadtzentren nur wenige Menschen an den Streckenrand.
Und gerade in Italien muss man schon froh sein, wenn es wegen der Straßensperrungen nicht noch Ärger zwischen Autofahrern, Ordnern und Zuschauern gibt. Auch in Torino kann, wer aufmerksam ist, unterwegs den einen oder anderen Streit bis hin zur Beinahe-Schlägerei beobachten. Orbassano ist jedenfalls nicht nur optisch sondern auch stimmungsmäßig einer der absoluten Höhepunkte des Marathons.
Die noch bei zehn Kilometer dichtgedrängte Spitzengruppe kommt in Orbassano schon ziemlich zerfleddert daher. Vorne haben sich Lawrence Kimayo, Habteselassie Lemma und John Kiprotich abgesetzt. Zwanzig Sekunden dahinter eilt Ruggero Pertile vorbei. Eine weitere knappe Viertelminute vergeht, bevor für Negash Abebe kurz hinter der Piazza, die nach dem zweiten italienischen König Umberto benannt ist, die Halbzeitmatte piept.
Peter Kurui hat auf seine beiden Landsleute und den Äthiopier bereits achtzig Sekunden verloren. Knapp dahinter haben sich Daniel Limo und Danilo Goffi zusammen gefunden. John Komen und Richard Rotich liegen sogar noch einmal weitere fünfzehn bzw. zwanzig Sekunden zurück, mit Durchgangszeiten von gut sechsundsechzig Minuten allerdings noch auf Kurs für eine Endzeit von 2:12.
Bei den Damen ist der Vorsprung von Priscah Jeptoo und Fate Tola inzwischen auf mehr als eineinhalb Minuten vor Nina Podnebsnova, Olesja Nurgalijeva und Sizmaz Mehtap angewachsen. Die andere Nurgalijeva-Schwester Jelena musste dagegen genau wie Florence Chepsoi inzwischen abreißen lassen und hat noch eine weitere Minute auf das Führungsduo verloren.
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Reich verziert sind viele der Gebäude in der Turiner Innenstadt |
Orbassano ist einer der Eckpunkte des ganz grob gesprochen aus kaum mehr als einem Quadrat bestehenden Kurses. Von nun an geht es erst einmal hauptsächlich in nördlicher Richtung weiter. Hinter dem Städtchen nimmt eine Landstraße die Läufer auf. Doch so richtig über Land führt sie eigentlich nicht. Denn direkt hinter der Brücke, die nun doch wieder ans andere Ufer der Sangone bringt, tauchen die ersten Häuser von Rivalta auf.
Anfangs ist die Bebauung jedoch eher verstreut und von freien Flächen unterbrochen, denn die Hauptstraße führt mehr an der Gemeinde, die zur Klarstellung noch den Zusatz "di Torino" im Namen führt, vorbei als durch sie hindurch. Eine kleine, schräg abzweigende Allee ein "Viale" und keine "Via" bringt die Marathonis dann aber doch noch hinein.
Es ist ein Schlenker, der in der Vergangenheit so bisher nicht absolviert wurde und der deshalb auch auf einigen der Streckenpläne gar nicht eingezeichnet ist. Wer ganz genau hin sieht, wird später auf den veröffentlichten Karten noch andere Ecken entdecken können, die man so gar nicht gelaufen ist. Ein klein wenig hat man seit der letzten Austragung also wohl doch am Marathonkurs herum gebastelt. Es sind allerdings eher winzige Details, das Grundkonzept ist dagegen seit Jahren absolut unverändert.
Der kleine Ausflug nach Rivalta führt zwar nicht in den eigentlichen Kern hinein sondern um ihn herum. Doch wenn man aufpasst, kann man nicht nur einen Blick auf den hoch aufragenden, schlanken Kirchturm werfen, sondern ein Stück oberhalb der Strecke auch die Mauern der alten Burg erkennen. Kaum mehr als einen Kilometer nach dem Abbiegen ist man jedoch bereits wieder auf der Hauptstraße gelandet.
Von der tiefsten Stelle der Strecke in der Nähe des Po hat man inzwischen gut sechzig Höhenmeter gewonnen. Weitere siebzig bis zum höchsten Punkt stehen noch bevor. Und die werden nun innerhalb der nächsten vier Kilometer gewonnen. Die Strecke ist also keineswegs so eben, wie man es angesichts von regelmäßig um oder unter 2:10 liegenden Siegerzeiten erwarten würde. Nimmt man alle Wellen zusammen, kommen wohl fast zweihundert zu erkletternde Meter zusammen.
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Aus weiten Alleen werden im Schlussabschnitt wieder schmale Sträßchen, | bevor die imposante Via Roma dann schnurgerade auf das Ziel zuführt |
Nicht nur die Steigung ist unangenehm, sie findet sich auch auf einer jener für den Turiner Kursverlauf so typischen Geraden. Zwischen Rivalta und dem Ortseingang des nordwestlichen Eckpunkts Rivoli gibt es erneut nicht die geringste Kurve. Doch obwohl der Anstieg zudem ziemlich gleichmäßig ist, kann man ihn nicht voll einsehen. Das trübe Wetter schränkt die Sichtweite eben doch ziemlich ein.
Die Berge, denen man nun sogar noch ein ganzes Stück näher gekommen ist, lassen sich sowieso nicht einmal erahnen. Das Piemont macht seinem Namen kaum Ehre. Dabei wäre diese Passage nicht nur deshalb ideal, weil die ersten Zweitausender kaum mehr als zwanzig Kilometer Luftlinie entfernt sind. Denn abgesehen von gelegentlichen kleinen Häusergruppen, ist das Gelände zumeist wieder ziemlich offen.
Obwohl man doch über Land unterwegs ist, scheint die Zahl der Zuschauer deutlich höher zu sein als im kurz zuvor verlassenen Rivalta. Noch mehr überraschen allerdings die vielen Fahnen, die sie in den Händen halten. "No TAV" steht auf ihnen und sie flattern mitnichten nur zur Anfeuerung der Läufer im Wind.
Die Abkürzung bedeutet nämlich "Treno Alta Velocità" und es geht vielmehr darum, gegen die Hochgeschwindigkeitsbahntrasse zu protestieren, die zwischen Turin und dem französischen Lyon mit mehreren langen Tunnels und Brücken quer durch die Alpen gebaut werden soll. Nicht nur in Deutschland geht man also wegen geplanter Verkehrsprojekte auf die Straße.
Auch in Rivoli lässt der Kurs den alten Kern links liegen. Es sind eher neue Wohngebiete am Rand, durch die man die Marathonis nun zumindest wieder mit der einen oder anderen leichten Kurve am Städtchen vorbei führt. Ein paar zusätzliche Höhenmeter bleiben ihnen so erspart. Doch dafür verpassen sie nicht nur das zu großen Teilen noch aus dem Mittelalter stammende Zentrum sondern auch das nie wirklich fertig gestellte Schloss. Das langsam schon vermutlich nervende Zauberwort UNESCO soll hier nicht unerwähnt bleiben.
Ziemlich genau zwei Drittel der Distanz sind zurück gelegt, als man auf den Corso Francia einbiegt. Und wer geglaubt hatte, die bisherigen Geraden wären lang gewesen, hat sich den Streckenplan im Vorfeld nicht wirklich genau angesehen. Denn fast zwölf Kilometer zieht sich diese breite, in einigen Teilen als Allee angelegte Straße vom Zentrum Turins bis nach Rivoli. Und alle bis auf zwei davon nehmen die Marathonis nun unter die Füße.
An der Spitze hat sich inzwischen John Kiprotich ein wenig abgesetzt und eine Lücke von fast einhundert Metern aufgerissen. Dahinter läuft das verbliebene Duo mit Lawrence Kimayo und Habteselassie Lemma weiterhin einträchtig nebeneinander. Aber auch der weitere knapp dreißig Sekunden zurück liegende Ruggero Pertile hat den Blickkontakt zu ihnen ebenfalls noch nicht völlig verloren.
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An der Piazza San Carlo biegt man auf die Schlussgerade der Via Roma ein | Unter den Arkaden dieser Haupteinkaufsstraße reiht sich ein Geschäft ans andere |
Fast zwei Minuten später ist Negash Abebe dann allerdings doch schon etwas deutlicher abgeschlagen und kann höchstens noch weiter nach vorne kommen, wenn einer der vor ihm Liegenden richtig einbricht. Eher muss er noch befürchten von Daniel Limo und Danilo Goffi, die nun Gesellschaft von Peter Kurui bekommen haben, eingeholt zu werden.
Auch Priscah Jeptoo und Fate Tola haben noch immer den gleichen Schritt. Und wohl nur noch die ungefähr zwei Minuten zurück liegende Russin Podnebsnova könnte ihnen gefährlich werden. Olesja Nurgalijeva und Sizmaz Mehtap haben sich dagegen im Anstieg eine bzw. eineinhalb Minuten eingefangen. Und die eigentlich schon abgehängte Florence Chepsoi, die Jelena Nurgalijeva bereits eingesammelt hat, kommt wieder näher.
Mit dem Einbiegen auf den in der Verlängerung tatsächlich früher bis nach Frankreich führenden Boulevard beginnt auch das Gefälle ins über hundert Meter tiefer gelegene Turin. Anfangs deutlich spürbar und von den Prozentwerten manchmal sogar noch etwas größer als die Steigung, flacht es später allerdings doch deutlich ab und wird zudem noch von einigen kleinen Gegenanstiegen und insbesondere einigen Brücken unterbrochen.
Wirklich interessant ist diese vielleicht wirklich längste Gerade bei einem europäischen Stadtmarathon eigentlich nicht. Meist ist der Corso Francia von mehrstöckigen Wohn- und Büroblocks gesäumt. Und dabei ist es ziemlich egal, ob man ihn anfangs in Rivoli, zwischendurch in Collegno oder ungefähr ab Kilometer fünfunddreißig in Turin entlang läuft. Doch ganz so eintönig, wie es sich nun vielleicht anhört, ist er am Ende dann auch nicht.
Noch drei weitere Kilometer geht es auch in Torino, in dem man mit einer überdimensionalen Ortstafel über der Straße empfangen wurde, immer weiter genau nach Osten und damit weg von den unsichtbaren Bergen, bevor ein Kreisel endlich eine Richtungsänderung bringt. In einem Winkel von ungefähr dreißig Grad zweigt dort der Corso Vittorio Emanuele ab.
Zwar hat damit nur eine Gerade die andere abgelöst, denn noch einmal geht es mehr als zwei Kilometer schnurstracks dahin. Doch ist man nun zum einen im gegenüber der Windrose leicht gekippten rechtwinkligen Straßennetz der Turiner Innenstadt angekommen. Zum anderen befindet man dank der nach dem ersten italienischen König benannten Straße sich auch wieder mitten in der Geschichte des Risorgimento.
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Zwischen Springbrunnen absolviert man die letzten Meter auf der Piazza Castello |
Kurz hinter dem vierzigsten Kilometer wird das dem Namensgeber der Straße zu Ehren errichtete ganz zufällig auch etwa vierzig Meter hohe Denkmal umrundet, das zwar durchaus monumental, im Vergleich zu einigem anderen, was man in Turin sehen kann, aber dennoch nicht gar zu übertrieben daher kommt. Hinter den Bäumen der Allee, deren Schatten an diesem Tag nun wahrlich nicht benötigt wird, sind längst wieder die typischen Turiner Arkaden zu erkennen.
Noch ein wenig weiter geradeaus würde der Corso Vittorio Emanuele zum Turiner Hauptbahnhof Porta Nuova führen, wo die genau auf die Piazza Castello zuführende Prachtstraße Via Roma beginnt. Doch diese durften in ihrer vollen Länge nur die Schüler beim angeschlossenen Junior-Marathon belaufen, während die erwachsenen Langstreckler ihre große Runde im Umland drehten.
Einige Straßenblocks zuvor biegt deren Kurs nach links ab und steuert auf die schmale, lang gestreckte Piazza Solferino zu, die allerdings in Wahrheit kaum mehr als ein mit einer Grünanlage verbreiterter Boulevard ist und aufgrund von Bauarbeiten im November 2010 auch nicht unbedingt attraktiv wirkt. Doch da nun der letzte Kilometer angebrochen ist, haben die meisten Marathonis dafür ohnehin kein echtes Interesse mehr.
Solferino ist der Ort der entscheidenden Schlacht des zweiten der allgemein und ein wenig inkorrekt "Guerre di indipendenza italiane" also "Italienische Unabhängigkeitskriege" genannten Kämpfe der Savoyischen Könige mit dem Habsburgerreich um die Vorherrschaft im Norden der Apenninenhalbinsel.
Nachdem sich Sardinien-Piemont 1858 durch einen von Camillo Benso von Cavour abgeschlossenen Geheimvertrag die Unterstützung von Napoléon III gesichert hatte, provozierte man die Donaumonarchie so lange, bis diese im Frühjahr 1859 nach Piemont einmarschierte. Damit waren die Österreicher die Aggressoren und Frankreich konnte zugunsten der Italiener eingreifen. Gut zehn Jahre später wurde Napoleon in einer bemerkenswerten Ironie der Geschichte selbst das Opfer einer ähnlichen, diesmal von Bismarck angewandten Taktik.
In Solferino standen sich auf beiden Seiten jeweils weit über hunderttausend Soldaten gegenüber. Seit der Völkerschlacht bei Leipzig waren in Europa keine größeren Heere mehr zusammen geprallt. Selbst beim berühmten Gefecht von Waterloo waren die aufgebotenen Kontingente ein wenig kleiner. Und mit insgesamt fast vierzigtausend Toten und Verwundeten war Solferino ähnlich blutig wie die endgültige Niederlage des ersten Napoleon.
Das Leid der hilflos auf dem Schlachtfeld liegenden verletzten Soldaten, die von den völlig überforderten Sanitätsdiensten nicht im geringsten alle versorgt werden konnten, brachte den aufgrund einer Geschäftsreise zufällig in Solferino anwesenden Henri Dunant wenig später dazu, das Rote Kreuz ins Leben zu rufen.
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Aus der Via Roma geht es zum Schlussspurt hinaus auf den weiten Schlossplatz |
Der Sieg über die Österreicher brachte Sardinien-Piemont wie schon erwähnt die Herrschaft über die Lombardei. Sieben Jahre danach trafen beide Seiten schon wieder aufeinander, als das nun bereits existierende Italien als Verbündeter von Preußen in den Krieg von 1866 eingriff. Obwohl die habsburgische Armee Venetien militärisch problemlos halten konnte, musste es im Friedensvertrag schließlich doch noch an das neue Königreich übergeben werden.
Frankreich jedenfalls erhielt entsprechend dem Geheimvertrag für seine Hilfe bei Solferino von den Italienern das Savoyische Stammland jenseits des Alpenhauptkamms und die Region um Nizza. Die angeblichen Volksabstimmungen, die diese Grenzverschiebung legitimieren sollten, wurden schon damals wegen ihres Ausgangs, der an die späteren Ergebnisse von Wahlen im Ostblock erinnert, nicht wirklich ernst genommen.
Dass Cavour mit Nizza ausgerechnet die Heimatstadt Garibaldis einfach als Tauschobjekt an Napoleon abtrat, verschlechterte das ohnehin nicht besonders gute Klima zwischen den beiden Protagonisten der italienischen Vereinigung nur noch zusätzlich. Obwohl beide durchaus ähnliche Fernziele hatten, waren die Charaktere des eiskalt berechnenden Grafen und des emotionalen Freischarkommandanten einfach zu unterschiedlich.
Nach rechts führt die Strecke nun doch noch auf die Via Roma, die unter ihren Arkaden die wohl nobelsten Geschäfte der Stadt beherbergt, zu und erreicht sie an der Piazza San Carlo auch. Allerdings stößt man erst am nördlichen Ende auf diesen wegen seiner nahezu vollständigen Symmetrie nur die beiden Kirchen San Carlo und Santa Cristina auf der Südseite sind leicht unterschiedlich wohl harmonischsten Platzes der Stadt, so dass man ihn nicht überlaufen kann.
Er ist das Ziel des ebenfalls am Marathontag ausgetragenen Volkslaufes "Stratorino", der ohne Zeitnahme und Wertung wie die Schülerläufe ebenfalls in den beiden Stunden ausgetragen wird, in denen die Langstreckler im Piemont unterwegs sind. Die Organisatoren haben sich dadurch jedenfalls einen ziemlich straffen Zeitplan auferlegt.
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Die Barockfassade des Palazzo Madama kann man wegen Renovierungsarbeiten nur erahnen | doch auch so ist der Zieleinlauf eindrucksvoll genug |
Mit 7,6 Kilometern Länge führt er bis zum Valentino-Park über die Marathonstrecke, um dann jedoch gleich wieder zur Innenstadt zurück zu kehren. Wohl auch weil der Platz für die Einsteiger gebraucht wird, bleibt es im Gegensatz zu früheren Auflagen bei einem ganz kurzen Abstecher auf die Piazza San Carlo.
Das Starttransparent des Stratorino durchlaufen die Marathonis kurz darauf vor dem Verlagshaus der "Stampa" in der Via Roma. Denn nicht nur das Ein- sondern auch das Loslaufen ist von den Langstrecklern getrennt. Die "Romstraße" ist in großen Teilen zwar erst in den Dreißigerjahren erbaut. Doch hat man sich dabei stark an die traditionelle Turiner Architektur angelegt und ist keineswegs in den anderswo oft zu findenden faschistischen Bombaststil verfallen. So bietet die Via Roma eine wirklich beeindruckende Zielgerade.
Und auf die biegt keineswegs einer der lange in Front liegenden Afrikaner als Führender ein. Es ist vielmehr Ruggero Pertile, der das Ziel am Eingang zur Piazzetta Reale als Erster ansteuert. Denn während seine Konkurrenten am Ende doch noch Federn lassen müssen, kann der Italiener sein Tempo praktisch bis ins Ziel durchziehen. Eine 2:10:58 zeigt die Uhr, als er jubelnd unter dem Transparent hindurch läuft. Keiner seiner Landsleute war 2010 schneller.
Eine Dreiviertelminute muss man warten, bevor Lawrence Kimayo nach 2:11:45 als Zweiter ankommt. Und sogar fast zwei Minuten verliert der 2:12:21 benötigende Habteselassie Lemma auf dem Schlussabschnitt noch gegenüber dem einheimischen Sieger. John Kiprotich muss für seinen Ausreißversuch sogar noch heftiger büßen. Mit 2:15:56 bleibt für ihn nur Platz neun.
Peter Kurui kann sich noch deutlich von Danilo Goffi lösen, der im Gegensatz zu Venedig diesmal allerdings ins Ziel kommt und mit 2:14:38 immerhin Fünfter wird. Kurui wird dagegen nach dem zweitschnellsten Schlusspart mit 2:13:06 gestoppt. Dahinter arbeitet sich John Komen in 2:15:20 von Rang neun auf sechs vor und an Daniel Limo (2:15:45) und Negash Abebe (2:15:49) vorbei. Richard Rotich schließt mit 2:16:15 die ersten Zehn ab.
Bei den Damen kann die Kenianerin Priscah Jeptoo das lange unentschiedene Duell mit Fate Tola mit 2:27:02 zu 2:28:22 doch noch klar für sich entscheiden. Und nicht etwa die lange auf dieser Position liegende Nina Podnebsnova sondern Florence Chepsoi wird nach einer wirklich gelungenen Aufholjagd am Ende in 2:32:38 Dritte. Die Russin hat nach 2:34:03 sogar Glück, nicht noch von ihrer gerade einmal fünf Sekunden mehr benötigenden Landsfrau Olesja Nurgalijeva überlaufen zu werden. Die Türkin Sizmaz Mehtap packt zwar auf der zweiten Hälfte fünf Minuten auf ihre Durchgangszeit kann ihren Platz mit 2:35:45 jedoch gegen die ebenfalls langsamer werdende und 2:37:21 benötigende Jelena Nurgalyeva sicher verteidigen.
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Selbst trübe Witterungsbedingungen könne die Stimmung im Ziel nicht mehr drücken |
Durchaus bemerkenswert ist, dass trotz der nicht einfachen Streckenführung gut acht Prozent aller Läufer in weniger als drei Stunden ins Ziel kommen. Von solchen Quoten sind die meisten Veranstaltungen hierzulande ja ein ganzes Stück entfernt. Und nach vier Stunden sind bereits mehr als zwei Drittel aller Teilnehmer angekommen. Nicht nur an der Spitze sondern auch im Feld insgesamt ist das italienische Niveau doch ein wenig höher.
Das lässt sich angesichts des geringen Ausländeranteils durchaus einfach folgern. Ob es den Turinern gelingt, sich nach dem Terminwechsel international in Zukunft ein bisschen besser gegen die Konkurrenz im eigenen Land zu behaupten, wird sich zeigen müssen. Aber zu einer Zeit, in der weiter im Norden der Veranstaltungskalender deutlich ausdünnt, sollte man vielleicht doch den einen oder anderen Lauftouristen anlocken können, der noch etwas Resturlaub loswerden muss.
Es müsste sich allerdings noch herumsprechen, dass Turin keineswegs eine graue Industriestadt ist sondern einem Besucher durchaus genug für ein langes Wochenende bieten kann. Dafür müssen die Berge, an deren Fuß die Stadt liegt, noch nicht einmal sichtbar sein. Sind sie es jedoch, dann wäre das natürlich umso besser.
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Bericht und Fotos von Ralf Klink Ergebnisse und Infos www.turinmarathon.it/de Zurück zu REISEN + LAUFEN aktuell im LaufReport HIER |
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