Eurasia-Marathon in Istanbul (19.10.03)Vom Orient zum Okzident |
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Das moderne Istanbul ist eine geschäftige und kosmopolitische Weltmetropole. Mit ihren 15 Millionen Bewohnern zählt sie zu den größten unseres Globus überhaupt. Die Stadt erstreckt sich längs des Bosporus, der Meerenge zwischen dem Marmarameer und dem Schwarzen Meer, entlang und steht damit mit einem Fuß in Europa, mit dem anderen in Asien. Der günstigen wie strategischen Lage an alten Handels- und Wasserwegen verdankt die Stadt ihre Stellung als größte und bedeutenste Stadt der Türkei. Unter den Namen Byzanz und Konstantinopel war sie Hauptstadt des Byzantinischen Reiches und des Osmanischen Reiches.
Lange Zeit sah es für die Millionenmetropole gar nicht gut aus. Die Stadt teilte sich ihren schleichenden Zerfall gemeinsam mit dem Niedergang des Osmanischen Reiches. Auch nach Ausrufung der türkischen Republik im Jahr 1923 änderte sich die Lage nicht wirklich. Die historischen Bauten des früher für seinen Reichtum und Pracht so berühmten Byzanz zerbröckelten weiter. Die Wende kam erst Anfang der 80er Jahre des vorigen Jahrhunderts. Die Wirtschaft erlebte einen Aufschwung und die Stadt konnte endlich wieder Gelder in längst fällige Sanierungs- und Restaurationsarbeiten stecken. Die Schönheit und Pracht der vergangenen Jahrhunderte kehrte langsam in die historischen Gebäude zurück. Schon bald entdeckte der Tourismus die Vielfalt der Stadt am Bosporus. Heute ist Istanbul kosmopolitisches Zentrum sowohl für Industrie und Handel wie auch für Kultur und Bildung an der Pforte zum Orient.
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... nicht ins Marathontor, erstmal außen rum | Brücke zum Orient |
Mit die schönsten Ausblicke auf die Stadt, deren Silhouette von den Kuppeln und Minaretten der weit über 500 Moscheen beherrscht wird, erhält man von den zwei Brücken die sich über das „Goldene Horn“ spannen. Einen Anblick wert ist auch die „Bogazici Köprüsü“, die Bosporusbrücke. Von dem Tag an, als Darius einen Ponton aus Booten bauen ließ, damit sein Heer nach Griechenland übersetzen konnte, haben die Menschen jahrhundertlang davon geträumt, den Bosporus zu überbrücken. Schon Michelangelo und Leonardo da Vinci gehörten zu denjenigen, die einen Brückenschlag planten. Die erste Bosporusbrücke wurde 1973 fertiggestellt und am 50. Jahrestag der Türkischen Republik feierlich eingeweiht. Mit einer Spannweite von 1560 Metern gehört sie zu den größten Hängebrücken der Welt. Schon 1988 folgte die Fertigstellung der zweiten Brücke, der „Fatih Sultan Mehmet-Brücke“, dieses Frühjahr bereits erfolgte die Ausschreibung für eine dritte Bosporusbrücke. Heute kann man sagen, dass der Brückenschlag über den Bosporus eine riesige Urbanisierungswelle und für Istanbul einen enormen Entwicklungsschub ausgelöst hat. Neue Industrie- und Wohngebiete entstanden, die Vororte verlagerten sich. Dabei dehnte sich die Stadt kreisförmig aus und entwickelte sich zu ihrem heutigen Erscheinungsbild.
Nur wenige Jahre nach Eröffnung der ersten Bosporusbrücke fand auch der erste kontinentübergreifende Marathonlauf statt. Für Läufer, die auf allen Kontinenten mindestens einen Marathonlauf bestreiten wollen, das Nonplusultra. Hier können sie mit einem Lauf gleich zwei Kontinente abhaken. Der Start erfolgt auf der asiatischen Seite Istanbuls, cirka einen Kilometer vor der großen Bosporusbrücke. Die komplette 6-spurige Stadtautobahn über die Brücke ist an diesem Marathon-Sonntag für den Fahrzeugverkehr gesperrt. Schon ab dem frühen Morgen werden die Teilnehmer mit den grünen Bussen der Istanbuler Verkehrsbetriebe von den Sammelplätzen rund um das Inönü-Stadion, wo sonst die Kicker von „Besiktas Istanbul“ ihre Heimspiele absolvieren, zum Startplatz gechartert. In unmittelbarer Nähe des Stadions befindet sich auch das Marathon-Organisationsbüro, wo der türkischen Mentalität entsprechend, laut aber nur anscheinend hektisch, das organisierte Chaos geleitet wird.
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Idylle am Bosporus | Läufer an der Nargileh hängend |
Der Transfer zum Start erfolgte wider erwarten schnell und reibungslos. Jeder Bus hatte eine bestimmte Nummer und war zusätzlich mit einem weiteren Nummernkreis versehen, deren Bedeutung mir erst während der Fahrt auf die asiatische Seite der Stadt gewahr wurde. Kurz vor Abfahrt der Busse sprangen mehrere Offizielle als Letzte ein und verteilten Kleidersäcke an die Insassen. Zusätzlich zu den Säcken gab es zwei Nummern aus diesem erwähnten Nummernkreis. Die eine galt es auf die Plastiksäcke zu kleben, die andere auf die Startnummer. Ein Helfer drückte jedem Insassen einen farbigen Klebepunkt auf seine Startnummer. Dies sollte in der Theorie wohl zur Kontrolle für die korrekte Startteilnahme dienen, in der Praxis bestätigte der Punkt aber lediglich den Transfer auf die asiatische Seite der Brücke. Dort angekommen wurden die so Beklebten aus den Bussen entlassen und ihrem weiteren Schicksal überlassen. Die Busse fuhren zwar in die Nähe der Startaufstellung, doch ob nun jeder Teilnehmer, seinem Sportsgeist gehorchend, sich nach dort in Bewegung setzte oder gleich Richtung Brücke davon trabte, blieb jedem selbst überlassen.
Meinem Gewissen folgend fand ich mich im Starterfeld ein und kam schon in der zweiten Startreihe zum Stehen. Spätestens hier hätte ich aber stutzig werden müssen. So weit vorne stand ich noch bei keinem anderen Marathon. Da beim Eurasia-Marathon die Zeitnahme aber noch in traditioneller Form ohne Champion-Chip etc. erfolgt, dachte ich mehr an die anstehende wundersame Bescherung eines Starts ohne Zeitverlust. Dieser erfolgte, dem Ereignis gerecht, mit dem entsprechenden Pomp und Aufgebot. Zwei Hubschrauber über uns, ein Böllerschuss unter Konfettiregen und die Menge setzte sich in Bewegung. Ich traute meinen Augen nicht. Vor mir die Brücke schon voll besetzt. Viele der später gemeldeten „Hunderttausend“ konnten dem Drang nicht widerstehen und sind einfach schon mal vorgeprescht. Dem Outfit nach wohl auch viele Tausend der Volksläufer, deren Start für die ausgeschriebenen 8 Kilometer eigentlich eine halbe Stunde später angesetzt war und die schon immer die Hauptmasse der Teilnehmer stellten. Der Marathon selbst wird von den Türken nur wenig angenommen. Finisherzahlen zwischen 200 und 400 sind die Regel. Die Masse läuft oder wandert die 8 Kilometer ab oder bewegt sich, wenn schon, auf der 15 Km-Teilstrecke. Was zählt ist die Brückenüberquerung zu Fuß. Zu Beginn auch für Fußgänger geöffnet, wurde die Brücke nämlich aus Sicherheitsgründen recht bald für Fußgänger und Radfahrer rigoros gesperrt. Keiner entgeht den Argusaugen des Wachpersonals. Die Teilnahme einer Brückenüberquerung per pedes hat sich so zu einer Frage der Ehre entwickelt und in den zurückliegenden Jahren auch schon Zahlen von 200.000 Teilnehmern erreicht.
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Siegerin Rima Dubovik | Sieger Belay Wolashe | Agnes Mußler |
Wird die Strecke in der Ausschreibung auch als überwiegend flach beschrieben, beginnt doch bei Kilometer 4 ein Anstieg um gut 100 Meter, der sich über 3 Kilometer hinzieht. Über Sisli und Taksim erreicht der Streckenverlauf den Startkern von Beyoglu, die sogenannte europäische Neustadt. Hier verabschieden sich die 15-km-Läufer und erreichen nach weiteren 2 Kilometer ihren separaten Zieleinlauf vor dem Inönü-Stadion. Den verbliebenen Marathonis öffnet sich erstmals ein grandioser Blick auf die Altstadt, das ehemalige Byzanz und Konstantinopel, mit der Silhouette der Sülemaniye-Moschee, der riesigen Hagia Sophia, der „Sultanahmet“ oder blauen Moschee mit ihren sechs schlanken Minaretten und ganz am Ende der Halbinsel, auf die Topkapi Palastanlagen. Auf der Atatürk-Brücke wird erstmals das „Goldene Horn“ überquert. Hierbei handelt es sich um einen natürlichen Hafen, der eigentlich ein Seitenarm des Bosporus ist und eine Länge von 11 km, Richtung Nordwesten, aufweist. Für die erfolgreiche „Goldene Horn Überquerung“ wird auf der Brücke der zweite Farbtupfer verpasst. In der Altstadt angelangt wird der noch von den Oströmern im 4 Jhd. n. Chr. erbaute Valens-Aquädukt, eine antike Wasserleitung, passiert. Auf dem Atatürk-Bulvari weiter, wird bei Yenikapi das Marmarameer erreicht. Ab hier führt die Strecke nun wirklich topfeben weiter bis zum Wendepunkt in Ataköy, der nach ca. 27,5 Kilometer erreicht wird. Als Belohnung wird für die bis da ausgehaltenen Strapazen der letzte Tupfer auf die Startnummer geklebt und zurück geht’s auf der Pendelstrecke.
Der starke aus dem Schwarzmeer durch den Bosporus blasende Gegenwind, der „Poyraz“, wird zunehmend heftiger und fordert meine letzten Reserven. Torsten vom „100-Marathon-Club“ läuft gerade seinen Zweihundertfünfzehnten und ist mir längst enteilt. Auch die beiden aus Kiel angereisten Marathonis, mit denen ich mich gerade angefreundet hatte, muss ich ziehen lassen. Ich versuche mich abzulenken und beginne mit sinnlosem zählen der vielen draußen auf dem Marmarameer auf Reede liegenden Schiffe. Längst sind die Anlegestellen für die Weltmetropole zu wenig, der Hafen völlig unterdimensioniert. Die Verpflegungsstellen alle 2 1/2 Kilometer bauen mich auch nicht mehr auf, nur Wasser und Würfelzucker. Bin ich ein Pferd? Bei Kilometer 35 unterhalb des Topkapi wird die Strecke wieder abwechslungsreicher. Sämtliche Düfte des Orients liegen in der Luft. Der Gestank einer Fischfabrik dreht mir fast den Magen um. Just in dem Moment überholt mich auch noch Agnes, meine Vereinskollegin, die ich doch schon auf dem Taksimplatz eingesammelt hatte. Ich bin wehrlos und am Ende. Fast schon in Trance erreiche ich die Galatabrücke und schleiche mich ein zweites Mal über das Goldene Horn.
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Die Bogazici Köprüsü | Viel Schiffsverkehr im Goldenen Horn |
Den historischen von den Genuesen als Teil einer Festungsanlage erbaute Galata-Turm nehme ich nur noch schemenhaft wahr, der absolute Tiefpunkt ist erreicht. Soll ich wandern oder tu ich’s nicht schon? Endlich Kilometer 40, und irgendwie kurz vor dem Dolmabahce, einem Prunkschloss nach europäischem Vorbild am Ufer des Bosporus, Sitz des osmanischen Hofes und letzte Residenz der Sultane ab 1856, fühle ich wieder neue Kräfte keimen. Diese sind auch bitter nötig. Ich suche das Marathontor des Inönü-Stadions, muss dieses leicht ansteigend fasst umrunden bis ich den heiß ersehnten Eingang endlich gefunden habe. Die Stadionrunde bleibt mir erspart, vor der Haupttribüne wurde das Ziel aufgebaut und wenige Meter vorher überhole ich doch tatsächlich noch einen Leidensgenossen. Welch eine Genugtuung! Das zu diesem Zeitpunkt Belay Wolashe aus Äthiopien und sicher auch Rima Dubovik aus der Ukraine als Sieger und Siegerin des 25. Eurasia-Marathon, nach 2:18:29 h bzw. 2:36:49 h längst frisch geduscht, das Stadion verlassen haben, störte mich nicht im Geringsten.
Was ist als Fazit festzuhalten: Wer einen Internationalen Marathon sucht in der Absicht, dort eine neue persönliche Bestzeit zu laufen, dem ist vom Eurasia-Marathon abzuraten. Zu wenig organisiert oder zu wenig ernst nimmt man offensichtlich die Zeitkontrolle. Dies ist zumindest mein Eindruck für die hinteren Platzierungen. Für die Elite gibt es Geldpreise bis zum 25. Rang bei den Männern und bis zum 10. Rang bei den Frauen, wobei der Tagessieg mit jeweils 20.000 $ honoriert wird. Was weiter hinten passiert, wird offensichtlich nicht mehr so genau genommen. Wie sonst lässt sich die große Zahl der „DNF“ erklären. Wer dagegen einen höchst beeindruckenden Erlebnismarathon sucht, die gelaufene Zeit dabei nebensächlich findet, der sollte sich den Eurasia-Marathon durchaus mal unter die (Lauf)Stiefel nehmen.
Meine Teilnahme beim Eurasia-Marathon erfolgte über eine Einladung der www.memler.de aus Karlsruhe. Hierbei handelt es sich um eine Gruppierung ehemaliger Kursteilnehmer der Initiative www.mein-erster-Marathon.de, die sich nach erfolgreichem Abschluss des Vorbereitungsprogramms auf den ersten Marathonlauf gebildet hat. Die Idee zur Teilnahme beim Eurasia-Marathon stammte von Cengiz Yilmaz, einem der Mitbegründer der „memler“. Schon immer hatte ihn der Marathonlauf in der Heimatstadt seiner Eltern gereizt. Nach erfolgreicher Teilnahme beim Baden-Marathon in Karlsruhe war klar, der Jubiläumslauf über den Bosporus wird als erster großer internationaler Auftritt der „memler“ in Angriff genommen.
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Volle Ränge im Inönü-Stadion. Wo sonst gibt es solch einen Stadioneinlauf? |
Doch jetzt beginnt die Tragik der Geschichte. Unsere Gruppe ist mit 19 Marathonis an den Start gegangen. Einer ist nachweislich ausgestiegen, doch 3 fanden sich wieder unter „DNF“. Kaum anzunehmen, dass nur unsere Gruppe diesbezüglich in Mitleidenschaft gezogen wurde. Auch bei herkömmlicher Zeitnahme, so etwas darf bei nur 573 gemeldeten Teilnehmern über die Marathonstrecke nun mal nicht passieren. Die „Hunderttausend“ können es nicht gewesen sein, die die Zeitnehmer durcheinander gebracht haben. Diese riesige Masse hatte ihren vom Marathon unabhängigen Zieleinlauf an völlig anderer Stelle. „Did not finish“ so dann auch für Cengiz Yilmaz. Bei 429 Finishern ist ein Schwund von einem Viertel der gemeldeten Läuferinnen und Läufer doch verdächtig hoch.
Ansonsten gibt es organisatorisch wenig auszusetzen. Eine offizielle Startgebühr gibt es nicht. Der Eurasia-Marathon ist eigentlich eine Benefizveranstaltung. Erwartet wird von ausländischen Teilnehmern eine Spende in Höhe von etwa 20 $. Sämtliche so erhaltenen Einnahmen fließen in einen Topf und kommen den Straßenkindern Istanbuls sowie den an Leukämie erkrankten Kindern zugute.
Im Ziel erhält jeder Finisher eine Medaille, eine Teilnahmerkunde sowie ein T-Shirt. Der Streckenverlauf ist bis auf die Pendelstrecke zwischen Kilometer 18 und Kilometer 30 wunderschön und bietet eine Vielzahl beeindruckender Panoramen einer Metropole zwischen Orient und Okzident. Die Stadt der Kuppeln und Minarette ist einfach faszinierend. Das Gewusel der Abertausenden von Menschen, der Smog und der Verkehrslärm können aber auch anstrengend sein. Aber da gibt es ja noch die Kaffees, die Nargileh oder das Hamam und vieles mehr.
Bericht Johann Till - Fotos Johann Till, Tristan & Reinhard MußlerInfos unter www.istanbulmarathon.org Zurück zu REISEN + LAUFENZu aktuellen Inhalten im LAUFREPORT klick HIER |
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